»Metal und Oper verbinden die großen Höhen und Tiefen«
»Leider ist die Disco in meinem Beruf ein unerreichbares Land«, sagt Sopranistin Anna Prohaska. Nur wenn sie länger Ferien hat, schleicht sie sich hin – und tanzt allein. In Salzburg singt Prohaska ab heute die Cordelia in Aribert Reimanns »Lear«. Shakesp
Theater und Oper sind eine große Illusionsmaschine. Man soll nicht dahinter blicken auf Schweiß, Holz, Erdhaufen, oder? Anna Prohaska: Als Zuschauer muss man ein gewisses Vorstellungsvermögen haben. Es ist ja auch im echten Leben nicht so, dass einer, eine anfängt plötzlich eine Arie zu schmettern. Wer weiß? Ich finde, moderne Zuseher machen einen zu großen Unterschied zwischen Oper und Film. In Wahrheit ist es im Film genauso, dass sich Schauspieler verkleiden als Aragorn, Marc Aurel oder Richard Nixon. Der Film schafft es aber, uns extrem hineinzuziehen. Und der Held überlebt immer. Das ist anders als in der Oper, wo Heldinnen und Helden meistens sterben. Stimmt. Was ich meinte: Die Zuschauer verzeihen dem Film den Irrealismus. Sie sind großzügiger als in der Oper. Da müssen die Sänger ganz schlank sein, um eine Liebesszene zu spielen. Das finde ich unfair. Opernsänger müssen essen, sie brauchen Kraft für die Bühne, wir sind keine Supermodels. Was essen Sie gerne? Alles außer Innereien und Gorgonzola. Momentan bin ich auf dem Gemüsetrip. Fenchel im Rohr mag ich, auch Spinat. Aber ich könnte keine Vegetarierin sein. Auf ein Steak oder ein Wiener Schnitzel ab und zu möchte ich nicht verzichten. Wichtig ist es jedenfalls, regelmäßig zu essen. Aber nicht vor der Vorstellung. Richtig. In den zwei Stunden vor der Vorstellung esse ich nur wenig. Davor sollte man genug gegessen haben, weil man sonst auf der Bühne nicht genug Kraft hat, oder nachts den Kühlschrank ausräumt. Wir Künstler sind ja praktisch Schichtarbeiter wie die Leute aus der Gastronomie oder die Ärzte. Welche Opern bringen den größten emotionalen Rausch? Für mich persönlich im Moment Wagner und Monteverdi. Sind Sie nicht durch Film sozialisiert? Ja! Historienfilme, Science Fiction,
Anna Prohaska.
Geboren 1983 in NeuUlm, der Vater ist ein österreichischer Opernregisseur, die Mutter eine irischenglische Sängerin.
Aufgewachsen
in Wien und Berlin, mit 20 singt sie erstmals an der Berliner Lindenoper.
Debüt in Salzburg
2008. Gastspiele an der Scala, Bolschoi, Covent Garden, Bayerische Staatsoper, Auftritte mit dem Concentus Musicus unter Nikolaus Harnoncourt.
„Lear“
bei den Salzburger Festspielen (Regie: Simon Stone, musikalische Leitung: Franz WelserMöst): 20., 23., 26. und 29. August 2017.
Theater an der Wien:
Ab 16. 2. 2018 singt Prohaska in Händels „Saul“die Partie der Tochter Sauls, Merab (Regie: Claus Guth). Stanley Kubrick, Tarkowski, die Klassiker, aber ich schau mir auch gern moderne Dystopien an, „Ex Machina“fand ich toll oder „Elysium“. Wie könnte unsere Welt in nicht allzu ferner Zukunft aussehen? Das interessiert mich. Gibt es Parallelen zwischen Film und Oper? In beiden Genres bewegt man sich in einem irrealen Raum, der aber mit unserer Welt zu tun hat. Stanislaw Lem rebellierte gegen den Kommunismus, seine Geschichten verlegte er auf fremde Planeten und kam so durch die Zensur. Komponisten taten dies auch, siehe Schostakowitsch oder Verdi. Kommen wir zum „Lear“. Sie spielen seine Tochter Cordelia, die vom Vater verstoßen wird, weil sie ihm nicht von ihrer Liebe vorschwärmen kann, anders als ihre schlauen Schwestern. Heute würde man sagen: Cordelia hat eine schlechte Performance und Lear ist kein Menschenkenner. Cordelias Problem ist, sie liebt ihren Vater, aber sie kann nicht überschwänglich sein und nicht lügen. Lear ist ein Mann in einem gewissen Alter, wir kennen sie, er will umschmeichelt und umgarnt werden. Er ist es gewöhnt, beweihräuchert zu werden. Er ist in einer bestimmten Weise blind. Die Geschichte erinnert mich etwas an „Des Kaisers neue Kleider“. Man kann Lear alles erzählen, solange es Komplimente sind. Bei Kritik droht gleich „Off with her head!“– wie die Königin in „Alice im Wunderland“ruft. Zielte Shakespeare mit seiner Tragödie auf die damals regierende Königin Elizabeth I.? Als „König Lear” entstand, saß schon der Nachfolger Elizabeths, Jakob I., Sohn Maria Stuarts, auf dem Thron. Nach der Reformation herrschte ein regelrechtes Terror-Regime. Der Feind im eigenen Land – die Katholiken – wurde gefoltert, geköpft, Priester mussten sich verstecken. Ein Ausweg war die Äquivokation. Die Jesuiten waren Meister darin, nicht zu lügen, aber auch nicht die Wahrheit zu sagen. Das ist ein großes Thema im „Lear“. Sobald jemand wie Cordelia auf eine unbeholfene, fast autistische Weise etwas Wahrhaftiges ausdrückt, wird sie verbannt und am Schluss sogar exekutiert. Man weiß nicht ganz genau, zu welchem Zeitpunkt Lear wahnsinnig wird. Ist er es schon von Anfang an? Manche spielen ja den Wahnsinn nur vor, um gesellschaftlichen oder politischen Zwängen zu entkommen, um die Nar- renfreiheit zu besitzen, wie Edgar, Glosters verstoßener Sohn – für mich ist er die Parallelfigur zur Cordelia. Sie hatten aber noch nie so viel Stress, dass Sie dachten, ich spiele verrückt, dann muss ich nicht auftreten?