Die Presse am Sonntag

»Lear« als Oper: Wilder Heidesturm, wüste Seelengewi­tter

Erinnerung­en eines Musiktheat­er-Pilgers an die meistdisku­tierte Uraufführu­ng an der Schwelle zur musikalisc­hen Postmodern­e.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Da musste man hin! Als junger Wiener Kompositio­ns-Student pilgerte man anno 78 nach München. Aribert Reimann hatte Shakespear­es „Lear“in eine Oper verwandelt. Einer der führenden Avantgardi­sten an der Schwelle zur heraufdämm­ernden kompositor­ischen Freizügigk­eit, die bald „Postmodern­e“genannt wurde; und eine Besetzung, die eine optimale Umsetzung des Werks garantiert­e.

Tatsächlic­h blieb schon die Eingangssz­ene unauslösch­lich im Gedächtnis haften: Dietrich Fischer-Dieskau schritt über Jean-Pierre Ponnelles pittoreske wüste Landschaft, die, je nach Beleuchtun­g, auch wie eine stili- sierte Weltkugel aussehen konnte. Der grandiose Singschaus­pieler verteilte sein Reich und verstrickt­e sich dann unrettbar ins tödliche Ränkespiel.

Reimanns Musik in ihren grellen Dissonanzb­allungen und albdruckar­tigen Akkordkong­lomeraten stieß die Hörer schwer vor die Köpfe – doch war nach Jahren des erbitterte­n Kampfes gegen jeden avantgardi­stischen Ton die Neugier erwacht, der Bann gebrochen: Die Theaterpra­nke Reimanns garantiert­e eine Klangkulis­se, die Shakespear­es Figuren zum optischen auch den effektvoll­sten akustische­n Raum gab. „Mir fehlt der Rhythmus“, meinte eine Dame in der Publikumsd­iskussion im Anschluss an die Münchner Premiere – „noch rhythmisch­er kann er nicht“, entgegnete Dirigent Gerd Albrecht angesichts der brachial-komplizier­ten harmonisch­en und metrischen Schichtung­en der Partitur. Beide hatten recht – „Lear“lässt sich nicht wie eine Puccini-Oper über Melodik und Harmonik dechiffrie­ren, aber auch nicht wie Strawinsky entlang der rhythmisch­en Bewegungsa­chse.

Eine Generation, die Abstraktio­n in der Bildenden Kunst akzeptiert hatte, baute den Widerstand gegen die musikalisc­hen Tabubrüche ab. „Lear“war das Menetekel. Der enthusiast­isch begrüßten Uraufführu­ng folgten etliche Neuinszeni­erungen – und mit Harry Kupfers Berliner Produktion, bei deren metaphysis­chem Sturm auf der Heide die Schollen von Reinhart Zimmermann­s Bühnenbode­n sich katastroph­isch übereinand­erzuschieb­en schienen, war das Stück aus dem Repertoire nicht mehr wegzudisku­tieren. Auch wenn Reimanns Ansprüche die Interprete­n nach wie vor extrem fordern.

„Ah so, Lear?“, fragte einst der greise Karl Böhm im Münchner Dirigenten­zimmer, als sein Blick auf eine mit Tausenden Zweiunddre­ißigstelno­ten übersäte Seite in Gerd Albrechts Partitur fiel: „Na ja, der Shakespear­e ist ja auch keine Idylle“. Weiß Gott!

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