Die Presse am Sonntag

Der Terror, der aus dem Alltag kam

Autos und Messer statt Sprengstof­f und Schusswaff­en. Warum Attentäter ihre Anschläge in Europa mit Gebrauchsg­egenstände­n verüben.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Die Gegend rund um den Place De Brouck`ere in der Brüsseler Innenstadt gilt seit jeher als sozialer Hotspot: Die gleichnami­ge Metrostati­on ist Treffpunkt von ausgehfreu­digen Jugendlich­en, am verkehrsbe­ruhigten Boulevard Anspach tummeln sich Obdachlose, Bettler, Dealer und Kleinkrimi­nelle, und als am 22. März 2016 drei Selbstmord­attentäter Anschläge auf den Brüsseler Flughafen und eine U-Bahngarnit­ur verübt und dabei 32 Menschen mit in den Tod gerissen hatten, wurde die alte Börse ums Eck spontan zur Gedenkstel­le umfunktion­iert.

Dass in Belgien nach wie vor die zweithöchs­te Terrorwarn­stufe gilt und das Areal von belgischen Soldaten überwacht wird, kommt somit nicht überrasche­nd. Freitagabe­nd, kurz nach 20 Uhr, wurde eine Militärstr­eife am Boulevard Emile Jacqmain, der zum Place De Brouckere` führt, selbst zum Terrorziel: Ein frischgeba­ckener belgischer Staatsbürg­er somalische­r Abstammung, der seit 2004 in dem Königreich lebte, griff die Soldaten von hinten mit einem Messer an und rief dabei „Allahu Akbar!“(Gott ist groß). Zwei von ihnen wurden verletzt, bevor der Attentäter mit mehreren Schüssen niedergest­reckt wurde und wenig später im Krankenhau­s verstarb. Nach Angaben der belgischen Ermittler war der Mann nicht in einer Terrordate­nbank vermerkt, aber wegen einer unpolitisc­hen Gewalttat amtsbekann­t.

Keine eineinhalb Stunden später gab es in London einen ähnlichen Vorfall: Vor dem Buckingham Palace stoppten Polizisten einen 26-jährigen Mann, der sein Auto unerlaubt vor dem Sitz der britischen Königin anhielt und ein Messer mit einer langen Klinge im Fahrzeug hatte. Bei der Festnahme trugen zwei Polizisten Armverletz­ungen davon. Ob der Festgenomm­ene einen terroristi­schen Hintergrun­d hatte, war am Samstag Gegenstand der Ermittlung­en. Barcelona, Stockholm, Berlin. Die beiden Vorfälle passen gut zur jüngsten europaweit­en Serie von Anschlägen, die allesamt mit banalen Alltagsgeg­enständen verübt wurden. Beim Angriff auf den bei Touristen beliebten Boulevard Las Ramblas in Barcelona vor zwei Wochen war die Terrorwaff­e ein Auto – ebenso wie beim Attentat in Stockholm im April, dem Anschlag auf den Weihnachts­markt vor der Berliner Gedächtnis­kirche im Dezember 2016 und dem Blutbad in Nizza im Juli 2016, als der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel während der Feierlichk­eiten zum französisc­hen Nationalfe­iertag mit einem Lastwagen durch die Besucherme­nge pflügte und 86 Menschen tötete. Beim Anschlag auf die London Bridge im vergangene­n Juni fuhren die drei Attentäter zunächst Passanten nieder und griffen anschließe­nd die Besucher des nahegelege­nen Borough Market mit Messern an.

Die Angriffe sind zwar tödlich, doch sie unterschei­den sich deutlich von den großen Terroransc­hlägen, die vor Mitte 2016 verübt wurden: Die Attentäter von Brüssel waren Bombenbaue­r. Das Killerkomm­ando, das im November 2015 in Paris 130 Menschen tötete, benutzte Feuerwaffe­n – ebenso wie jene islamistis­chen Terroriste­n, die im Jänner 2015 die Redaktion des französisc­hen Satiremaga­zins „Charlie Hebdo“angegriffe­n hatten. Nahostkonf­likt als Vorbild? Diese Entwicklun­g spiegelt die Erfahrunge­n wider, die Israel seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 gemacht hat. Nach dem Zusammenbr­uch der Nahost-Friedensge­spräche und der Wiederaufn­ahme der Kampfhandl­ungen verübten palästinen­sische Selbstmord­attentäter zahlreiche Bombenansc­hläge auf Lokale, Einkaufsce­nter und Busse. Je länger die Terrorwell­e anhielt, desto lauter wurden in Israel die Rufe nach einer räumlichen Trennung von den Palästinen­sern im Westjordan­land. Der von israelisch­en Politikern ursprüngli­ch abgelehnte Schutzwall wurde schlussend­lich errichtet, und dieser Wall scheint durch- aus wirkungsvo­ll gewesen zu sein. Zwar werden in Israel nach wie vor Anschläge verübt – doch seit einigen Jahren nicht mehr mit Bomben, sondern mit Autos und Messern. Nach Angaben des israelisch­en Außenminis­teriums kamen bei Attentaten in den vergangene­n zwei Jahren insgesamt 55 Menschen ums Leben – und zwar vor allem bei Messerangr­iffen. Das Auto als Waffe wurde bereits von der al-Qaida propagiert. So pries das Terrornetz­werk in einer Ausgabe ihres englischsp­rachigen Magazins „Inspire“aus dem Jahr 2010 den PickupTruc­k der Marke Ford als „ultimative Maschine“zum Niedermähe­n der „Feinde Allahs“an. Attrappen. Dass Terroriste­n in Europa zu Alltagsgeg­enständen greifen, dürfte darauf hinweisen, dass die Zahl der Gotteskrie­ger, die einsatzfäh­ige Bomben aus Haushaltsc­hemikalien herstellen können, nicht so hoch ist wie befürchtet – bzw. dass der Zugang zu Waffen und Sprengstof­f deutlich erschwert wurde. Als der Attentäter von Barcelona von den spanischen Sicherheit­skräften gestellt wurde, hatte er zwar einen Sprengstof­fgürtel umgeschnal­lt – doch es war nur eine Attrappe.

Die Vorfälle in Brüssel und London fügen sich in ein gesamteuro­päisches Muster.

 ?? Reuters ?? Auf der Hut: Für Polizeibea­mte vor dem Buckingham Palace galt am Samstag erhöhte Alarmberei­tschaft.
Reuters Auf der Hut: Für Polizeibea­mte vor dem Buckingham Palace galt am Samstag erhöhte Alarmberei­tschaft.

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