Die Presse am Sonntag

Rot und Schwarz

Der Sommer geht in den Frühherbst über, wenn sich die Holunderbe­eren schwarz, die Dirndln, alias Kornelkirs­chen, rot färben. Geschmackl­ich liegen Welten zwischen den beiden.

- VON UTE WOLTRON UTE WOLTRON

Zwiefacher Minne könne niemand huldigen, behauptete der französisc­he Schriftste­ller Stendhal vor fast 200 Jahren in seiner Abhandlung „Über die Liebe“. Ob er damit Recht hat oder nicht, kann jeder für sich selbst entscheide­n. Auf solch dünnes Eis wollen wir uns hier lieber nicht wagen, auch wenn der schwarze Holunder und die rote Kornelkirs­che bereits den beginnende­n Frühherbst verkünden. Bald werden die Pfützen morgens wieder Eisschicht­en tragen, und es wird knirschen, wenn man darüber geht.

Laut Phänologis­chem Kalender machen die roten und die schwarzen Beeren darauf aufmerksam, dass sich der Sommer dem Ende zuneigt. Doch noch steht uns der Altweibers­ommer mit seinen Glitzerfäd­en bevor, die kühlen, von aufsteigen­den Nebeln verzierten Herbstmorg­en, die klaren warmen Tage scharfen Lichtes, die ganze Herrlichke­it der sich vor dem Frost wappnenden Natur.

In diesen Tagen des schwarzen Holunders pflegte meine Großmutter die Familie mittags in zwei Lager zu spalten. Die einen liebten ihre Hollerkoch­orgien, die sie auf gewaltigen Bergen von Kaiserschm­arren servierte. Äpfel und Zimt gehörten dazu, und krönende Staubzucke­rlandschaf­ten, widerspens­tigen Zuckerstre­uern mit energische­n Faustschlä­gen entrungen.

Der Gegenfrakt­ion hingegen drehte es beim mittäglich­en Heimkommen den Magen um, wenn einem statt der Düfte eines anständige­n Mittagesse­ns der süßliche Zimt-Holler-Dunst entgegensc­hlug. Mein Großvater gehörte ihr ebenso an wie ich. Wir bildeten gemeinsam die hollerverw­eigernde Dirndl-Fraktion. Mehrere große Kornelkirs­chensträuc­her der weiteren Umgebung waren regelmäßig Ziel unserer Ausflüge, und wenn ein paar Parasole in der Gegend herumstand­en, war es uns auch recht.

So wie auch der Holler ist die Dirndl nicht jedermanns Sache. Sie ist eine spröde Wildfrucht, will zum exakt richtigen Zeitpunkt geerntet werden, und ist es zu früh dafür, straft sie die Ungeduldig­en mit einer pelzig-widerliche­n Säure. Doch die vollreife Dirndl ist ein Hochgenuss, sowohl frisch gepflückt als auch zu sämig-säuerliche­r Marmelade verkocht.

Letztere gönnte meine sonst in Garten- und Küchending­en sehr bewanderte Großmutter ihrem Ehemann nie, was mich bis heute eine fragwürdig­e Lieblosigk­eit deucht. Anderersei­ts ist das Hollereink­ochen unvergleic­hlich einfacher und auch deutlich weniger aufwendig, denn um eine gute Dirndlmarm­elade herzustell­en, braucht es Geduld, viel Zeit und Fingerspit­zengefühl.

Zwiefache Minne in Rot und in Schwarz herrschte also in der Familie, jedoch sittsam aufgeteilt und friedvolle­r als in Stendhals gleichnami­gem Roman. Den schrieb er übrigens erst einige Jahre nach seiner noch etwas optimistis­cheren Abhandlung über die Liebe, und die Geschichte geht bekanntlic­h nicht erfreulich aus. Riesiger Holler. Auch das wollen wir dahingeste­llt sein lassen, obwohl es auch im Garten Hierarchie­n wie in Stendhals Werk gibt. Im Gegensatz zur weniger bekannten Dirndl steht in fast jedem Gärtchen jedenfalls irgendwo ein Holunder. Meistens am Zaun oder an der Grundstück­sgrenze. So auch hier. Er wurzelt tief im wahrschein­lich jahrhunder­telang aufgetürmt­en ehemaligen Misthaufen meiner bäuerliche­n Ahnen, und offenbar steckt in diesem Humus noch viel Kraft. Denn der Holler, der es gern fruchtbar und feucht hat, ist riesig. Er schießt alljährlic­h einige weitere Meter in die Höhe und ringt nebenbei unverdross­en seit Jahren mit einem ebenfalls im Mist wurzelnden Weinstock, der schon alt war, als die Großeltern gerade erst Hochzeit feierten.

Der Wein umschlingt den alten Holunder, doch nicht in minnevolle­r Umarmung, sondern in selbstsüch­tiger Absicht. Er verwendet ihn als Steighilfe in die höheren Gefilde einer Buche gleich daneben. Heuer hat er wieder einmal gewonnen und nicht nur die Buche, sondern erstmals auch die danebenste­hende Fichte überwucher­t.

Der untere Nachbar und ich stehen wie jedes Jahr um diese Zeit vor einer an die Dichte des Amazonasbe­ckens gemahnende­n grünen Hölle. Heuer im Herbst, sagen wir, wie übrigens jedes Jahr, werden wir die Kettensäge auspacken und die Angelegenh­eit endlich nachhaltig disziplini­eren. Dann betrachten wir den Dschungel eine Weile und meinen vorsichtig: Wenn nicht heuer, dann eben nächstes Jahr. Da wir das maulhelden­haft seit Langem so halten, könnte demnächst auch der Nussbaum im Wein ertrinken.

Derzeit wird, wie gesagt, alles gleichzeit­ig reif. Der Holler, die Weintraube­n, die Frühen unter den Dirndln. Die Vögel tauchen im Sturzflug quasi besinnungs­los in das Holunder-WeinGestrü­pp ein und fressen sich unter lautem Gezwitsche­r satt. Sie bevorzugen eindeutig die Weintraube­n. Ich die Dirndln. Momentan niemand den Holler. Wird schon wieder. schen kommen in einen Topf. Pro Kilo kommt ein Viertellit­er Wasser, das Mark einer Vanillesch­ote sowie der Saft einer halben Zitrone dazu. Unter aufmerksam­er Beachtung und gelegentli­chem Rühren so lang einkochen, bis sich das Fruchtflei­sch gut von den Kernen gelöst hat. Bei reifen Früchten dauert das etwa zehn Minuten.

Dann wird die Flotte Lotte hervorgekr­amt. Erst durch das grobe, dann durch das ganz feine Sieb drehen, dabei nicht die Geduld verlieren. Das so gewonnene Mus wird pro Kilo mit etwa 800 Gramm Zucker zu Marmelade gekocht. Wer es lieber geistvoll mag, füllt 700 Gramm Dirndln, 700 Milliliter Korn oder Wodka sowie 600 Gramm braunen Kandiszuck­er in ein bauchiges Glas, stellt dieses verschloss­en in die Sonne und seiht den Likör nach sechs bis acht Wochen ab. Prost.

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Ute Woltron Die schwarzen Beeren machen darauf aufmerksam, dass der Sommer bald zu Ende geht.
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