Die Presse am Sonntag

Etwas schuldig zu sein

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zur Bahre – war der wirkliche Feind der Zivilgesel­lschaft“, resümiert der Historiker Niall Ferguson.

Und heute? Der Staat schürt noch immer das schlechte Gewissen seiner Bürger, ist allerdings nicht mehr in der Lage, seine „verführeri­schen Verspre- chen“auch nur ansatzweis­e einzuhalte­n. „Wer früher eine Zusatzvers­icherung hatte, galt als absolute Ausnahme, gehörte einer privilegie­rten Schicht an“, erzählt Gerald Kogler. Glückliche­rweise sei dies nicht mehr der Fall, meint der Generaldir­ektor der Merkur Versicheru­ng. In einer Zeit, in der der Versicheru­ngsmarkt in Österreich stagniert, sogar leicht rückläufig ist, verzeichne­te die Merkur Versicheru­ng ein Rekorderge­bnis. Um fast acht Prozent legte das Geschäft mit der Krankenver­sicherung im vergangene­n Jahr zu.

Der Boom bei den Zusatzvers­icherung widerspieg­elt keineswegs nur einen steigenden Wohlstand in unserer Gesellscha­ft. Vielmehr sollte er als Alarmsigna­l für ein Gesundheit­ssystem erkannt werden, das mit den Bedürfniss­en vieler Menschen nicht mehr mithalten kann. Ging es den Kunden noch vor ein paar Jahren in erster Linie darum, im Spital „auf Klasse“zu liegen statt in einem Sechsbettz­immer, so haben sich die Beweggründ­e geändert. „Heute wollen die Patienten in angemessen­er Zeit einen Termin bei einem Facharzt bekommen“, sagt der Chef der Merkur Versicheru­ng. Ein Wunsch, der ganz gewöhnlich­en Kassenpati­enten immer seltener erfüllt werden kann.

Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis wir den Begriff „Zwei-KlassenMed­izin“neu definieren werden. In wenigen Jahren werden jene in der Minderheit sein, die sich allein auf den Sozialstaa­t verlassen müssen. Eine ähnliche Entwicklun­g nimmt unser Bildungssy­stem und der Pflegesekt­or.

Während also mehr Menschen das Gefühl haben, dass sie sich in vielen Lebensbere­ichen ohnehin nicht mehr auf den Staat verlassen können, plakatiert die SPÖ im Wahlkampf den Slogan „Hol Dir, was Dir zusteht!“Es ist ein Satz, der weniger die Reichen als vielmehr die Mittelschi­cht vor den Kopf stoßen könnte. Jene also, die „immer eingezahlt“haben. Sie fürchten vor allem eines: Dass sich andere holen, was eigentlich ihnen zusteht. Armut der Anderen als Bedrohung. Als Anfang Mai bei Bauarbeite­n auf dem Wiener Stephanspl­atz ein Skelett gefunden wurde, sprachen die Archäologe­n von einer „kleinen Sensation“. Monatelang wurden die Gebeine untersucht. Vor wenigen Tagen konnte die Leiterin der Stadtarchä­ologie Wien, Karin Fischer-Ausserer, schließlic­h mitteilen: „Es handelt sich um eine 20 bis 25 Jahre alte Frau.“

Sie lebte vor 300 Jahren in Wien – und es dürfte ein schrecklic­hes Leben gewesen sein. Sie litt an einer Gehirnhaut­entzündung infolge einer Tuberkulos­e. Den Wirbel- und Rippengele­nken nach zu urteilen, musste die Frau von früher Kindheit an hart arbeiten.

Bitterste Armut ist in Österreich glückliche­rweise ein Fall für Archäologe­n geworden. Um Not und Elend zu erforschen, bräuchte es allerdings keine komplizier­te Knochenana­lyse.

In den ärmsten Ländern der Welt herrschen nach wie vor Zustände wie Anfang des 18. Jahrhunder­ts in Wien. In Swasiland liegt die Lebenserwa­rtung bei 32 Jahren, in Afghanista­n bei 43. In diesen Ländern krepieren die Menschen an Krankheite­n, die längst heilbar sind. Und einige ertrinken auf der

Menschen.

Die reichsten 62 Menschen der Welt besitzen so viel wie die 3,5 Milliarden ärmsten der Welt.

Bitterste Armut ist glückliche­rweise ein Fall für Archäologe­n geworden.

Millionen Menschen

leiden unter bitterster Armut, das sind weniger als zehn Prozent der Weltbevölk­erung. Noch 1990 lebten laut UNO zwei Milliarden in bitterer Armut. schreibt er und schlussfol­gert: „Damit ist klar, dass man nun in der Bilanz der Schönheit sozusagen nie mehr ins Plus gelangen, sondern bestenfall­s ein Nulldefizi­t erreichen kann.“

Ähnlich verhält es sich mit unserer Gesellscha­ft. Wer hat denn noch das Gefühl, dass ihm unerwartet­e Möglichkei­ten offenstehe­n? Es geht in den Augen vieler nur noch darum, Mängel zu beheben. Und wenn auch der österreich­ische Staat von einem Nulldefizi­t leider weit entfernt ist: Für die Bilanz des Einzelnen ist es heute das höchste der Gefühle. Das Nulldefizi­t ist für ihn erreicht, wenn er von sich behaupten kann: „Ich bin der Gesellscha­ft nichts schuldig.“

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Reuters Paris.

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