Tomaten aus Apulien: Das rote Gold und die Ausgebeuteten
In Foggia, dem süditalienischen Zentrum des Tomatenanbaus, schuften vor allem afrikanische Einwanderer für einen Stundenlohn zwischen drei und vier Euro. Sie wohnen in Ghettos und füllen Kisten – ein System, das eigentlich illegal ist. Davon profitieren n
Padrone“nennt Soleyman (22) seinen Boss, dessen Namen er nicht kennt. Es ist ein italienischer Bauer, der ihn früh morgens um vier aus dem Schlaf reißt, manchmal noch früher. Anrufe dieser Art bedeuten: Es gibt Arbeit!
Im Innenhof einer aufgelassenen Milchfabrik erwachen die Männer auf ihren Matratzen. In der Dämmerung schwärmen sie auf Fahrrädern und Mopeds in alle Richtungen aus. Man sieht sie Wasserflaschen auf den Gepäcksträger schnallen und sich Handschuhe über die rauen Hände stülpen. Menschen wie Soleyman haben die Überfahrt nach Europa in Schlepperbooten überlebt. Und jetzt erledigen sie einen Job, den in Italien niemand machen möchte: Tomaten ernten.
Trotz steigender Automatisierung und des Einsatzes von Maschinen auf den Feldern ist die italienische Landwirtschaft auf ausländische Erntearbeiter angewiesen. Um dem Druck der Handelsketten und dem Lohndumping aus China Stand zu halten, greifen Landwirte auf billige Saisonarbeiter zurück. Neben Afrikanern, die über die Mittelmeerroute nach Europa geflüchtet sind, auch auf Bulgaren, Rumänen beziehungsweise Roma und Sinti. Die italienische Bauernvereinigung Coldiretti schätzt, dass allein in Süditalien 120.000 Migranten und Flüchtlinge arbeiten. Die Gewerkschaft Flai-CGIL geht von einer Dunkelziffer aus, die um ein Vielfaches höher ist. Denn allein in Foggia, wo diese Geschichte spielt, sollen es laut CGIL 50.000 Menschen sein.
In Süditalien arbeiten die Saisonarbeiter für einen Stundenlohn zwischen drei und vier Euro, leben in Ghettos am Rande der Städte, umgeben von Feldern, auf denen sie in glühender Hitze Tomaten, Oliven, Peperoni, Melonen und Orangen ernten. Man nennt sie die neuen Sklaven Europas. Im August, Hochsaison der Tomatenernte, gehen viele von ihnen aufs Land. Dort, vor allem in Apulien, sind die größten Tomatenplantagen des Landes. Rund zwei Millionen Tonnen Tomaten werden in Foggia jedes Jahr geerntet, der Großteil landet auf europäischen Märkten. Die wichtigsten Abnehmer sind Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Bei den Endprodukten handelt es sich um weiterverarbeitete Tomaten, etwa Konserventomaten, Tomatenmark, Ketchup oder Saucen, oft mit Thunfisch. Laut Italiens Statistikamt „Istat“stammen die meisten Tomaten für die industrielle Verarbeitung aus Apulien und der benachbarten Region Kampanien. Drei fünfzig statt sieben fünfzig. Landesweit bringt das Einnahmen in Milliardenhöhe ein. Doch nicht alle verdienen mit am „roten Gold Apuliens“. Nur 3,50 Euro bekommt ein Erntehelfer in Foggia für das Befüllen einer Kiste, die 300 Kilogramm fasst. Das italienische Mindestgehalt für diese Form der Arbeit liegt bei 7,50 Euro pro Stunde.
Migranten und Flüchtlinge
sind Schätzungen zufolge allein in Süditalien auf den Feldern tätig.
Euro
beträgt das Mindestgehalt in Italien für die Form von Arbeit, für die ein Migrant oder Flüchtling oft zwischen drei und vier Euro bekommt. Das Kisten-System ist zwar illegal, aber rentabel. Die Männer arbeiten schnell, legen wenig Pausen ein und trinken unregelmäßig Wasser. Im August stiegen die Temperaturen in Foggia zum Teil auf 45 Grad. Wer hier die Mittagshitze gespürt hat, der weiß, wie gefährlich es sein kann, über Stunden auf freiem Feld zu stehen.
Die Tomaten werden nicht einzeln gepflückt, sondern als Stauden aus der Erde gerissen. Dann schütteln sie die Arbeiter in Körbe aus, die in regelmäßigen Abständen in die 300 KilogrammKiste entleert werden. Die Kiste ist so groß, dass sie von Gabelstaplern auf die Trucks geladen werden muss, die auf Feldwegen direkt zum Acker fahren. Ist der Truck vollgeladen, werden die Arbeiter zu einem neuen Feld gebracht. Drei Tonnen pro Tag. Auf den dreckigen Matratzen in den Ghettos rund um die Stadt ruhen sich junge Männer aus Nigeria, Gambia, dem Senegal oder Ghana aus. Sie erzählen, dass sie unter diesen Bedingungen zehn Plastikkisten am Tag gefüllt haben. Das sind 3000 Kilogramm Tomaten. Am Ende des Tages bekommen die wenigsten ihr Geld bar auf die Hand. Die Männer klagen, dass sie ihre „Padroni“über Wochen nicht bezahlt haben. Wer keine Papiere hat oder unklaren Aufenthaltsstatus, macht sich erpressbar. Dazu kommt die strenge Hierarchie im Ghetto, der sich die Arbeiter fügen müssen. Elettra Griesi von der Universität Innsbruck, die über Erntehelfer in Apulien forscht, spricht von „Ausbeutungspyramide“.
Ganz oben stehen Supermarktketten und Großhändler, dann kommen die Landwirte, ganz unten sind die Erntehelfer. Dazwischen stehen die so genannten „Caporali“, Mittelsmänner aus den Communities, die den italienischen Bauern billige Arbeitskräfte beschaffen. Sie alle sind voneinander abhängig und möchten sich Eigengewinne sichern. Ganz unten angelangt bleibt nicht mehr viel übrig. Die Anthropologin Griesi betont: „Es sind die ausländischen Erntearbeiter, die bei diesem wirtschaftlichen Prozess alles zu verlieren haben. Sie sind von der Ausbeutung und Exklusion am stärksten betroffen.“ Jetzt regieren die Capos. Früher standen die Caporali selbst auf den Feldern, jetzt haben sich viele hochgearbeitet und verdienen am System mit: 50 Cent für jede geerntete Kiste und fünf Euro pro Arbeiter für die Fahrt auf die Felder. Die „Capos“sind die Big Bosses im Ghetto. Sie koordinieren nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch Drogenhandel, Prostitution, Shops und Bars im Lager. Bei ihnen laufen die Fäden zusammen, für Arbeit, Brot und Vergnügen. „Ohne Capos keine Arbeit“, sagt Raffaele Falcone, Jurist bei der Gewerkschaft Flai-CGIL.
Falcone (28) lenkt seinen Wagen über eine unbefestigte Straße. Das Zentrum Foggias, wo sein Büro liegt, hat er längst hinter sich gelassen. Zehn Kilometer außerhalb, mitten in der Peripherie, dort wo selbst Google Maps
Die Männer beklagen, dass sie ihre »Padroni« über Wochen nicht bezahlt haben. Mit 2000 Bewohnern ist Borgo Mezzanone das größte von acht Ghettos.
keine Straßen mehr anzeigt, beginnt die Produktionskette der italienischen Tomaten. Hier draußen begegnet man nur zwei Sorten von Autos. Einerseits riesigen Trucks, die bis zu vier Reihen Plastikkisten voller Gemüse geladen haben. Andererseits klapprigen, weißen Minivans, in denen sich oft zehn oder mehr dunkelhäutige Männer gezwängt haben. Autos fahren im Ghetto nur die Caporali. Am Horizont, wo die Hitze über dem Asphalt flimmert, erscheint etwas, das auf den ersten Blick wie das Gelände eines Festivals aussieht. Bald sind Laternen, dann kleine quadratische Container, dann schiefe