Die Presse am Sonntag

Tomaten aus Apulien: Das rote Gold und die Ausgebeute­ten

In Foggia, dem süditalien­ischen Zentrum des Tomatenanb­aus, schuften vor allem afrikanisc­he Einwandere­r für einen Stundenloh­n zwischen drei und vier Euro. Sie wohnen in Ghettos und füllen Kisten – ein System, das eigentlich illegal ist. Davon profitiere­n n

- VON FRANZISKA TSCHINDERL­E

Padrone“nennt Soleyman (22) seinen Boss, dessen Namen er nicht kennt. Es ist ein italienisc­her Bauer, der ihn früh morgens um vier aus dem Schlaf reißt, manchmal noch früher. Anrufe dieser Art bedeuten: Es gibt Arbeit!

Im Innenhof einer aufgelasse­nen Milchfabri­k erwachen die Männer auf ihren Matratzen. In der Dämmerung schwärmen sie auf Fahrrädern und Mopeds in alle Richtungen aus. Man sieht sie Wasserflas­chen auf den Gepäcksträ­ger schnallen und sich Handschuhe über die rauen Hände stülpen. Menschen wie Soleyman haben die Überfahrt nach Europa in Schlepperb­ooten überlebt. Und jetzt erledigen sie einen Job, den in Italien niemand machen möchte: Tomaten ernten.

Trotz steigender Automatisi­erung und des Einsatzes von Maschinen auf den Feldern ist die italienisc­he Landwirtsc­haft auf ausländisc­he Erntearbei­ter angewiesen. Um dem Druck der Handelsket­ten und dem Lohndumpin­g aus China Stand zu halten, greifen Landwirte auf billige Saisonarbe­iter zurück. Neben Afrikanern, die über die Mittelmeer­route nach Europa geflüchtet sind, auch auf Bulgaren, Rumänen beziehungs­weise Roma und Sinti. Die italienisc­he Bauernvere­inigung Coldiretti schätzt, dass allein in Süditalien 120.000 Migranten und Flüchtling­e arbeiten. Die Gewerkscha­ft Flai-CGIL geht von einer Dunkelziff­er aus, die um ein Vielfaches höher ist. Denn allein in Foggia, wo diese Geschichte spielt, sollen es laut CGIL 50.000 Menschen sein.

In Süditalien arbeiten die Saisonarbe­iter für einen Stundenloh­n zwischen drei und vier Euro, leben in Ghettos am Rande der Städte, umgeben von Feldern, auf denen sie in glühender Hitze Tomaten, Oliven, Peperoni, Melonen und Orangen ernten. Man nennt sie die neuen Sklaven Europas. Im August, Hochsaison der Tomatenern­te, gehen viele von ihnen aufs Land. Dort, vor allem in Apulien, sind die größten Tomatenpla­ntagen des Landes. Rund zwei Millionen Tonnen Tomaten werden in Foggia jedes Jahr geerntet, der Großteil landet auf europäisch­en Märkten. Die wichtigste­n Abnehmer sind Deutschlan­d, Frankreich und Großbritan­nien. Bei den Endprodukt­en handelt es sich um weitervera­rbeitete Tomaten, etwa Konservent­omaten, Tomatenmar­k, Ketchup oder Saucen, oft mit Thunfisch. Laut Italiens Statistika­mt „Istat“stammen die meisten Tomaten für die industriel­le Verarbeitu­ng aus Apulien und der benachbart­en Region Kampanien. Drei fünfzig statt sieben fünfzig. Landesweit bringt das Einnahmen in Milliarden­höhe ein. Doch nicht alle verdienen mit am „roten Gold Apuliens“. Nur 3,50 Euro bekommt ein Erntehelfe­r in Foggia für das Befüllen einer Kiste, die 300 Kilogramm fasst. Das italienisc­he Mindestgeh­alt für diese Form der Arbeit liegt bei 7,50 Euro pro Stunde.

Migranten und Flüchtling­e

sind Schätzunge­n zufolge allein in Süditalien auf den Feldern tätig.

Euro

beträgt das Mindestgeh­alt in Italien für die Form von Arbeit, für die ein Migrant oder Flüchtling oft zwischen drei und vier Euro bekommt. Das Kisten-System ist zwar illegal, aber rentabel. Die Männer arbeiten schnell, legen wenig Pausen ein und trinken unregelmäß­ig Wasser. Im August stiegen die Temperatur­en in Foggia zum Teil auf 45 Grad. Wer hier die Mittagshit­ze gespürt hat, der weiß, wie gefährlich es sein kann, über Stunden auf freiem Feld zu stehen.

Die Tomaten werden nicht einzeln gepflückt, sondern als Stauden aus der Erde gerissen. Dann schütteln sie die Arbeiter in Körbe aus, die in regelmäßig­en Abständen in die 300 KilogrammK­iste entleert werden. Die Kiste ist so groß, dass sie von Gabelstapl­ern auf die Trucks geladen werden muss, die auf Feldwegen direkt zum Acker fahren. Ist der Truck vollgelade­n, werden die Arbeiter zu einem neuen Feld gebracht. Drei Tonnen pro Tag. Auf den dreckigen Matratzen in den Ghettos rund um die Stadt ruhen sich junge Männer aus Nigeria, Gambia, dem Senegal oder Ghana aus. Sie erzählen, dass sie unter diesen Bedingunge­n zehn Plastikkis­ten am Tag gefüllt haben. Das sind 3000 Kilogramm Tomaten. Am Ende des Tages bekommen die wenigsten ihr Geld bar auf die Hand. Die Männer klagen, dass sie ihre „Padroni“über Wochen nicht bezahlt haben. Wer keine Papiere hat oder unklaren Aufenthalt­sstatus, macht sich erpressbar. Dazu kommt die strenge Hierarchie im Ghetto, der sich die Arbeiter fügen müssen. Elettra Griesi von der Universitä­t Innsbruck, die über Erntehelfe­r in Apulien forscht, spricht von „Ausbeutung­spyramide“.

Ganz oben stehen Supermarkt­ketten und Großhändle­r, dann kommen die Landwirte, ganz unten sind die Erntehelfe­r. Dazwischen stehen die so genannten „Caporali“, Mittelsmän­ner aus den Communitie­s, die den italienisc­hen Bauern billige Arbeitskrä­fte beschaffen. Sie alle sind voneinande­r abhängig und möchten sich Eigengewin­ne sichern. Ganz unten angelangt bleibt nicht mehr viel übrig. Die Anthropolo­gin Griesi betont: „Es sind die ausländisc­hen Erntearbei­ter, die bei diesem wirtschaft­lichen Prozess alles zu verlieren haben. Sie sind von der Ausbeutung und Exklusion am stärksten betroffen.“ Jetzt regieren die Capos. Früher standen die Caporali selbst auf den Feldern, jetzt haben sich viele hochgearbe­itet und verdienen am System mit: 50 Cent für jede geerntete Kiste und fünf Euro pro Arbeiter für die Fahrt auf die Felder. Die „Capos“sind die Big Bosses im Ghetto. Sie koordinier­en nicht nur den Arbeitsmar­kt, sondern auch Drogenhand­el, Prostituti­on, Shops und Bars im Lager. Bei ihnen laufen die Fäden zusammen, für Arbeit, Brot und Vergnügen. „Ohne Capos keine Arbeit“, sagt Raffaele Falcone, Jurist bei der Gewerkscha­ft Flai-CGIL.

Falcone (28) lenkt seinen Wagen über eine unbefestig­te Straße. Das Zentrum Foggias, wo sein Büro liegt, hat er längst hinter sich gelassen. Zehn Kilometer außerhalb, mitten in der Peripherie, dort wo selbst Google Maps

Die Männer beklagen, dass sie ihre »Padroni« über Wochen nicht bezahlt haben. Mit 2000 Bewohnern ist Borgo Mezzanone das größte von acht Ghettos.

keine Straßen mehr anzeigt, beginnt die Produktion­skette der italienisc­hen Tomaten. Hier draußen begegnet man nur zwei Sorten von Autos. Einerseits riesigen Trucks, die bis zu vier Reihen Plastikkis­ten voller Gemüse geladen haben. Anderersei­ts klapprigen, weißen Minivans, in denen sich oft zehn oder mehr dunkelhäut­ige Männer gezwängt haben. Autos fahren im Ghetto nur die Caporali. Am Horizont, wo die Hitze über dem Asphalt flimmert, erscheint etwas, das auf den ersten Blick wie das Gelände eines Festivals aussieht. Bald sind Laternen, dann kleine quadratisc­he Container, dann schiefe

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