Wie man Wahlen ohne Wahlkampf gewinnen kann
Kanzlerin Angela Merkel ist der SPD im Wahlkampf entwischt. Schon wieder. Wie die Methode Merkel funktioniert. Eine Spurensuche, die auch auf die ostdeutsche Insel Rügen führt.
Weiße Felswände ragen aus dem Wasser. Am Horizont schieben sich Kreuzfahrtschiffe über das Meer. Irgendwo im Osten ist Polen, im Norden Dänemark. Und hier, auf dem Kurplatz in Binz, Insel Rügen, ist gleich Angela Merkel. Zwei Frauen tuscheln. „Die trägt heut ’nen orangefarbenen Blazer. Jede Wette. “„Nö, blau.“Dann erhebt man sich, das ältere Publikum zückt seine Smartphones. Auch Rentner wollen ein Selfie mit der Spitzenkandidatin des Wahlkreises 15. Aber Angela Merkel (CDU) steuert zielstrebig auf die Bühne in ihrer politischen Heimat zu.
Seit zwölf Jahren sitzt Merkel in der „Bundeswaschmaschine“, wie die Berliner das Kanzleramt wegen der bulläugigen Fenster nennen. Ihrem Volk erklärt sich die 63-Jährige kaum, nur im Wahlkampf senkt sich der Hubschrauber mit der Kanzlerin auf deutsche Marktplätze nieder. Merkel hält dann pflichtschuldig Reden, die kaum mitreißen. Und sie serviert in Interviews ein paar Häppchen aus ihrem abgeschotteten Privatleben. Es geht um Merkels Rezept für Kartoffelsuppe oder so. Ansonsten reichen ein paar wohlige Leerformeln, die diesmal um den Wahlkampfslogan kreisen: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“Und dann wird Merkel wahrscheinlich wiedergewählt. So wie immer. Warum eigentlich?
Sabrina, 54, zieht an ihrer Zigarette. „Sie vermittelt uns ein Sicherheitsgefühl. Uns geht’s doch gut, und das wollen wir festhalten.“Man kann das auch so übersetzen: Das CDU-Wahlprogramm ist Angela Merkel. Und solang die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit historisch niedrig ist, wählt man dieses Programm nicht ab.
Wer sich Merkels Beliebtheit weiter nähern will, stößt auf zwei Herbsttage. Der erste ist der 28. November vor vier Jahren, der Amtsantritt der Großen Koalition. Es war ein Wagnis. Für die SPD. Nach der ersten „GroKo“unter Merkel fuhr die SPD 2009 ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein. Merkels zweiter Koalitionspartner, die FDP, flog danach aus dem Bundestag. Und nun, nach der Neuauflage der GroKo, unterbietet die SPD in Umfragen zuweilen das Katastrophenergebnis aus 2009. Es ist ein gefähr- licher Platz an Merkels Seite. Sie saugt ihre Koalitionspartner aus, während sie sie umarmt. Die SPD setzte die Rente mit 63 durch, auch den „Mindestlohn“. Die Ernte fährt jetzt Merkel ein – der Kanzlerbonus. „Wir haben den Mindestlohn eingeführt“, sagt Merkel in Binz. Der Ruhepol. Das zweite Datum sind die Morgenstunden des 9. Novembers 2016, als die Bundesrepublik mit der Nachricht aufwachte, Donald Trump werde US-Präsident. Merkel zentriert sich mit den zur Raute gefalteten Händen um ihre Körpermitte. Die Deutschen zentrieren sich in der Krise um Merkel. Die Frau in den immer gleichen Hosenanzügen, stets mit derselben Frisur, ist die fleischgewordene Berechenbarkeit, der Anti-Trump.
Eine Rentnerin erzählt, dass es ihr Respekt abringt, wie sich Merkel auf der Weltbühne bewegt und dort ganz deutsch, also „mit unaufgeregter Sachlichkeit“, die großen Machos zähmt. Ein Verkäufer stellt das Fischbrötchen auf den Tisch, blickt zu Merkel auf die Bühne. Er ist kein Fan. „Aber das Letzte, was die Deutschen wollen, ist Veränderung. Davor haben sie Angst.“Merkel spürt das. In Binz warnt sie vor Rot-Rot-Grün: „Experimente können wir uns nicht erlauben.“Die Zeiten seien ja unruhig. So hat schon CDU-Übervater Konrad Adenauer vor genau 60 Jahren die Wahlen gewonnen: „Keine Experimente.“
Es ist die einzige Stelle, an der Merkels Rede ein bisschen nach Wahlkampf klingt. Den Namen ihres SPDHerausforderers Martin Schulz nennt sie kein einziges Mal. Sie vermeidet es, Unterschiede zu ihrer Konkurrenz herauszustellen. Das hat Methode. „Die Kanzlerin entzieht sich Diskussionen in präsidialer Weise und lässt alle Angriffe ins Leere laufen. Der Diskurs wird eingeschläfert“, sagt Demokratieforscher Wolfgang Merkel, weder verwandt noch verschwägert mit der Kanzlerin. Die Bundesrepublik döst in einem großkoalitionären Konsens. Auf den ersten Blick. Aber der Protest bricht an den Rändern hervor. Er hat Trillerpfeifen im Mund oder brüllt derb: „Hau ab!“Hier in Binz rufen ein paar AfD-Anhänger: „Merkel muss weg!“
Aber bis zur Bühne sind ihre Parolen und Pfiffe verhallt. Das Publikum hier ist ansonsten so ruhig wie die Ostsee an diesem Tag. Aber der Schein trügt: Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern gab es auf der Ferieninsel einen Rechtsruck, die AfD kletterte auf über 20 Prozent. Merkel sagt dazu: nichts. Nur nicht polarisieren. Es heißt, Merkel lasse Kritik an sich abperlen. Und sie lege sich ungern fest. „Weltmeisterin des Ungefähren“, nannte sie SPD-Chef Schulz einmal, als er sie inhaltlich wieder nicht zu fassen bekommen hatte. Das ist nur die halbe Wahrheit. Merkel saugt komplexeste Inhalte auf wie ein Schwamm. Und dieses beeindruckende Detailwissen tropft sie den Deutschen ab und zu in die Augen. Politik klingt bei Merkel ziemlich kompliziert. Sie übersetzt sie nicht. „Es gibt einen großen Teil der eher nicht politisierten Bürger, die sagen: Ich delegiere das alles lieber an die Kanzlerin“, erklärt Politologe Merkel. Das ist der Pakt, den die Kanzlerin und viele Deutsche geschlossen haben. Flüchtlingskrise. Irgendwann kommt Merkel in Binz auf die größte Krise ihrer zwölf Kanzlerjahre zu sprechen. Es ist die immer gleiche Botschaft: 2015 war eine historische Leistung, die sich aber nicht „wiederholen darf, soll und kann“. Damit „trifft sie genau die Stimmung der Mehrheit“, sagt Robin Alexander, Autor des Bestsellers zur Flüchtlingskrise „Die Getriebenen“. „Die Mehrheit will nicht von sich selbst sagen: ,Mein Gott waren wir alle doof 2015.‘ Nein, die Mehrheit will, dass wir das moralischste Volk Europas sind. Gleichzeitig weiß man, dass das so nicht weitergehen konnte.“
Es ist ein Balanceakt, den Merkel mit rhetorischer Raffinesse vollführt: „Sie spricht zum Beispiel bis heute nicht von Abschiebungen. Sie sagt dann, dass diese Menschen uns verlassen müssen. Darin spiegelt sich der Kern ihrer Methode: Sie vermeidet in radikaler Konsequenz, Angriffsfläche zu bieten“, sagt Alexander.
Merkels inzwischen korrigierter Flüchtlingskurs öffnete Raum rechts der Union. Er nährte die AfD in ihrer nationalkonservativen Gestalt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Zugleich drang Merkel noch tiefer ins linksliberale Milieu ein, ihrem liebsten Wilderungsgebiet. Zwei Wochen vor der Grenzöffnung war sie noch als „Eiskönigin“porträtiert worden. Nun wurde aus der angeblich gefühlskalten Kanzlerin „Mutter Angela“.
Gespräch mit einem Barbesitzer. Der Mann hat sein Leben lang Grün gewählt. Und diesmal? „Merkel – wegen der Flüchtlingspolitik.“Er sagt nicht CDU. Er sagt, er wähle Merkel. Das ist wichtig. Merkel hat sich selbst so weit nach links geschoben, dass in der Mitte kein Platz für die SPD mehr ist. Da sitzt jetzt die Frau, die vor zwölf Jahren als neoliberale Reformerin angetreten war.
Eine „Demoskopie-Kanzlerin par excellence“, nennt sie Wolfgang Merkel. „Sie hat ein großes Gespür für Stimmungen, und sie sammelt ihre Mehrheiten dort, wo es sie gibt.“Ihr Regierungsstil sei immer derselbe: erst einmal die anderen einander bekriegen lassen und abwarten. Für dieses Zögern und Zaudern gibt es zwei Erklärungen: Die eine ist, dass Merkel in der Wartezeit ein großes Problem in kleine Häppchen filetiert und – ganz Physikerin – „vom Ende her“über eine Lösung nachdenkt. Die zweite ist, dass sie sich zuerst ein Bild machen will, wohin die Mehrheit der Deutschen tendiert. Vermutlich stimmt beides.
Die größten politischen Entscheidungen in der Ära Merkel haben jedenfalls die Gemeinsamkeit, dass sie immer eine breite Zustimmung der Bevölkerung hatten (und in keinem CDUWahlprogramm standen). In Merkels Welt verschwimmen die Grenzen zwischen Pragmatismus und Opportunismus. Merkel-Kenner Alexander: „Wenn Demokratie bedeutet, dass die oben veränderte Stimmungen im Volk aufnehmen, dann ist Merkel eine mustergültige Demokratin. Wenn man Demokratie aber so definiert, dass die politischen Führer die Debatte strukturieren
Es ist ein gefährlicher Platz an Merkels Seite. Sie saugt ihre Koalitionspartner aus. »Kanzlerin Angela Merkel sammelt Mehrheiten dort, wo es sie gibt.«
müssen, um damit eine Meinungsbildung erst möglich zu machen, dann ist Merkel keine gute Demokratin, weil sie immer sofort dreht.“
Inzwischen hat Merkel eine konservative Bastion nach der nächsten aufgegeben. Aus für die Atomkraft, Aussetzung der Wehrpflicht und heuer die Einführung der Ehe für alle, der Merkel’sche Moment in diesem Wahlkampf. Es zählt zu den Erfolgsgeheimnissen der Kanzlerin, dass sich ihr Machtkalkül hinter einem unscheinbaren Äußeren und komplizierten, nahezu unbeholfenen Ansagen versteckt. Der taktische Schwenk bei der Ehe für alle klang so: „Und deshalb möchte ich gerne die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt hier per, hm, Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke.“Eine DPA-Journalistin hörte aus diesem verschachtelten Merkel-Satz heraus, was er war, nämlich die Aufgabe eines CDU-Urthemas. Am Tag davor hatte