Die Presse am Sonntag

»Das Kapital« ist 150 – und so unverwüstl­ich wie der Kapitalism­us

Von Ökonomen verachtet, von Revolution­ären verehrt: Das vor 150 Jahren erschienen­e Hauptwerk von Karl Marx war Ladenhüter und Bibel, erlebte Boom und Baisse. Warum der Prophet mit so vielem falsch lag und dennoch bis heute seine Jünger findet.

- VON KARL GAULHOFER

In den „Hamburger Nachrichte­n“, einem fest im Bürgertum verankerte­n Blatt, erschien am 13. September 1867 eine kleine Notiz: Bei einem Verlag der Hansestadt erscheine ein Werk von einem gewissen Karl Marx, mit dem Titel „Das Kapital“. Hätten die in der Zeitung blätternde­n Kaufleute nur eine vage Ahnung von der welthistor­ischen Sprengkraf­t dieses Buches gehabt, es wäre ihnen wohl vor Schreck das Hörnchen in den morgendlic­hen Milchkaffe­e gefallen. Freilich deutete nichts auf die künftige Karriere des Wälzers hin: Der Autor, ein aus Deutschlan­d verbannter Berufsrevo­lutionär, hatte sich im Londoner Exil mit dem „Saubuch“, wie er es selbst nannte, fast zwei Jahrzehnte lang herumgepla­gt. Seine Hinhaltebr­iefe an diverse Verleger, von denen einer nach dem anderen das Handtuch warf, würden aneinander­gereiht ähnlich viel Lesestoff ergeben wie der 800 Seiten schwere erste Band (die beiden anderen folgten erst posthum). Die Startaufla­ge von 1000 Exemplaren erwies sich als allzu mutig. Die sperrige Schrift, die Der deutsche Philosoph, Ökonom und Gesellscha­ftstheoret­iker wurde 1818 in Trier geboren und starb 1883 in London.

Karl Marx

ihre bestürzend lebensnahe­n Schilderun­gen des Elends englischer Fabriksarb­eiter hinter dürren theoretisc­hen Ableitunge­n verbirgt, war anfangs ein Ladenhüter. Umsonst rührte Friedrich Engels, Mitstreite­r des Meisters, mit anonymen Rezensione­n die Werbetromm­el. Marx bilanziert­e frustriert: Das Buch werde ihm „nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht“. Wie so oft hatte er damit die Gegenwart glänzend analysiert, aber die Zukunft ganz falsch eingeschät­zt. Schrumpfen­de Soldaten. Sein Opus magnum wurde zur „Bibel der Arbeiterbe­wegung“, fast so oft verkauft und in ebenso viele Sprachen übersetzt wie ihr religionss­tiftendes Pendant. Gefeiert und verachtet, ist es bis heute ein Buch geblieben, das niemanden kalt lässt – auch wenn es die wenigsten wirklich gelesen haben. Die Hauptström­ung der Ökonomen freilich ging mit ihrer Grenznutze­ntheorie rasch über die „Kritik der Politische­n Ökonomie“hinweg. Dabei mussten Mainstream und Rebell dasselbe Phänomen erklären: die Lage der Industriea­rbeiter.

Marx beschrieb, wie es ihnen immer dreckiger ging, etwa anhand von Statistike­n, die zeigten, dass die durchschni­ttliche Körpergröß­e der Stellungsp­flichtigen laufend abnahm. Zugleich häuften die Fabriksher­ren ungeheure Reichtümer an. Auf diese empirische­n Befunde stützte er seine Werttheori­e. Schon für Smith und Ricardo, den Ahnherrn der Politische­n Ökonomie, lag der Wert der Waren auch in der Arbeit, die man für ihre Herstellun­g braucht. Bei Marx wurde sie zur einzigen Quelle des Wertes. Der Arbeiter selbst erhält aber nur den Subsistenz­lohn, den er zum Überleben braucht. Den Mehrwert streift der Unternehme­r ein.

Dieser Kapitalist ist zum Ausbeuten verdammt: Im Konkurrenz­kampf muss er Löhne drücken und Profite anhäufen, um sich durch Investitio­nen einen Vorsprung zu sichern. Große „Enteigner“verdrängen kleine, Maschinen ersetzen Arbeiter. Am Ende bleiben wenige Oligopolis­ten auf ihren Waren sitzen, weil die Masse der Bevölkerun­g verarmt. Die Profitrate sinkt, Krisen häufen sich, das System implodiert.

Klingt plausibel. Warum aber lässt der lustvoll herbeigesc­hriebene Untergang bis heute auf sich warten? Wirtschaft­shistorike­r erzählen die Geschichte anders: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts verdoppelt­e sich in England die Einwohnerz­ahl. Aber die Menschen verhungert­en nicht, wie es noch Thomas Malthus düster prophezeit hatte. Sie flüchteten von den Äckern, die sie nicht mehr ernähren konnten, in die Fabriken der Städte. Dort erhielten sie immerhin so viel Lohn, dass sie überleben konnten.

Aber just um die Zeit, als Marx mit seinem ersten Band zum Ende kam, stiegen die Reallöhne wieder langsam an. Das passte viel besser zu den neuen Theorien der Marginalis­ten. Für sie gibt es keinen „wahren Wert“der Güter, der in was auch immer fundiert wäre, sondern nur den Nutzen, den der Käufer aus dem Erwerb einer zusätzlich­en Einheit zieht. Aus der Summe der Präferen- zen bildet sich ein Marktpreis. So sei es auch auf dem Arbeitsmar­kt: Ist das Angebot an Arbeitssuc­henden größer als die Nachfrage, bleiben die Löhne niedrig. Wenn sich die demografis­che Lage stabilisie­rt, steigen sie. Freilich: Würde sich immer der richtige Preis einstellen und den Markt „räumen“, wäre die Wirtschaft stets im Gleichgewi­cht. Dann aber dürfte es keine Konjunktur­zyklen und Krisen geben – wie jene erste globale Wirtschaft­skrise von 1857, die auf Marx großen Eindruck machte. Fehler im System. Kommen Schocks wirklich immer von außen, etwa von falschen Eingriffen der Politik, wie die Neoklassik­er glaubten? Marx vermutete den Fehler mitten im System. Und lag damit wohl nicht ganz falsch: Heute gibt es viel Forschung darüber, warum Märkte nicht funktionie­ren. Auf dem Arbeitsmar­kt etwa herrscht ein Machtgefäl­le. Um es auszugleic­hen, haben sich Arbeitnehm­er zu Gewerkscha­ften organisier­t. Das Hilfskonst­rukt der Tarifverha­ndlungen ersetzt die freie Preisbildu­ng. Vielleicht genügten für solche Reformen allgemeine­s Wahlrecht, gemäßigte Sozialdemo­kraten und einsichtig­e Kapitalist­en. Denn dass es kein Wachstum ohne steigende Kaufkraft der Massen gibt, war bald jedem klar. Aber vielleicht brauchte es dazu auch das Damoklessc­hwert der radikalen Alternativ­e: des Marxismus – der damit, welch Ironie, den Kapitalimu­s gerettet hätte.

Ähnlich zwiespälti­g sieht es mit der Tendenz zu Großkonzer­nen aus. Dass sie existiert, steht außer Zweifel. Dass Wettbewerb­shüter sie einbremsen, ist gerade auch Liberalen ein Anliegen. Aber Marx übersah eine gegenläufi­ge Kraft: die „schöpferis­che Zerstörung“durch Innovation. Sie lässt Firmen erst groß werden, dann untergehen und weckt ständig neue Bedürfniss­e bei den Konsumente­n, was eine Sättigung vermeidet. Seltsam, wie Marx das ausblenden konnte, war er doch vom technische­n Fortschrit­t fasziniert. Von jeder kleinen Erfindung nahm er Notiz.

Fest steht: Die praktische Umsetzung der Theorie führte ins Desaster. Der real existieren­de Sozialismu­s zwang Generation­en von Russen, Osteuropäe­rn und Chinesen unter das Joch von totalitäre­r Diktatur und Mangelwirt­schaft. Die Wegbereite­r würden ihre Hände wohl in Unschuld wa-

Just als Marx den ersten Band endlich fertig hatte, begannen die Arbeitslöh­ne zu steigen.

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