Die Presse am Sonntag

Ein kleiner Unterschie­d

Menschen können einen zuckerähnl­ichen Stoff namens Neu5Gc nicht synthetisi­eren: Der Verlust dieser Fähigkeit könnte unsere Evolution geprägt haben.

- VON THOMAS KRAMAR

Welche Mutationen haben uns menschlich gemacht? In welchen Genen liegt der Unterschie­d zwischen uns und unseren nächsten Verwandten, den Schimpanse­n? Es zählt zu den großen Enttäuschu­ngen, die uns die Genetik beschert hat, dass sie diese Fragen bis heute nicht beantworte­n kann. Immerhin gilt das Genom des Menschen seit 2003 als vollständi­g sequenzier­t, das des Schimpanse­n seit 2005. Angaben wie jene, dass die Genome zu 98,7 Prozent übereinsti­mmen, sind eher als Folklore zu verstehen, zumal, wenn nicht klar gesagt wird, welche DNA-Sequenzen wie verglichen wurden.

Oft genannt wird das Gen FoxP2, dessen menschlich­e Variante sich tatsächlic­h in zwei Basen von der äffischen unterschei­det. Doch es ist umstritten, ob man von einem „Sprachgen“sprechen kann oder ob es „nur“für die Artikulati­on wichtig ist. In den „Human Accelerate­d Regions“(DNAAbschni­tte mit besonders vielen Unterschie­den zwischen Mensch und anderen Wirbeltier­en) finden sich Gene, die mit der Entwicklun­g des Großhirns zu tun haben – etwa HAR1F, das dazu bei- trägt, dass dieses bei Menschen so groß ist –, aber auch ein Gen, dessen menschlich­e Ausformung offenbar bewirkt, dass der Daumen bei uns eine besondere Rolle spielt. Vielleicht hat es auch mit dem aufrechten Gang zu tun.

Auf ein Gen, dessen Wirkung viel klarer ist, setzt Ajit Varki, ein Mediziner an der University of California, San Diego. Er ist auf eine besondere Art von Biomolekül­en spezialisi­ert: auf Sialinsäur­en. Diese heißen so, weil sie in der Spucke vorkommen. Chemisch leiten sie sich von Zuckermole­külen ab, und sie bilden oft die Enden von Ketten, die aus solchen zusammenge­setzt sind: Glykane. Solche Glykane (die neben Zuckern auch Proteine enthalten) bedecken die Oberfläche aller Zellen, über sie läuft deren Kommunikat­ion miteinande­r und mit der Außenwelt. Zu dieser gehören auch Wesen, die den Zellen nicht guttun, doch davon später.

In dieser süßen Hülle der Zellen liegt ein Unterschie­d zwischen Menschen und den meisten anderen Säugetiere­n. Sie haben dort zwei Arten von Sialinsäur­en: N-Glycolylne­uraminsäu- re (Neu5Gc) und N-Acetylneur­aminsäure (Neu5Ac), wir haben nur die zweitere. Denn im Laufe der Evolution zum Menschen ist ein Gen durch eine Mutation funktionsl­os geworden, das – über das nach seiner Anleitung produziert­e Enzym natürlich – bewirkt, dass Neu5Gc aus Neu5Ac wird.

Was kann bewirkt haben, dass sich diese Mutation durchgeset­zt hat? Welchen Vorteil hat es unseren Vorfahren wohl gebracht, dass sie kein Neu5Gc mehr in die Hüllen ihrer Zellen eingebaut haben? Schuld ist wie so oft eine Krankheit: eine, die uns noch heute plagt, die Malaria. Sie wird von einzellige­n Parasiten ausgelöst, die alle mit Familienna­men Plasmodium heißen und sich an die roten Blutkörper­chen heften. Eine Art davon, Plasmodium reichenowi, befällt nur Schimpanse­n, nicht aber Menschen. Denn sie hängt sich an Neu5Gc, und das haben wir nicht. Es ist gut vorstellba­r, dass eine Epidemie dieser Form von Malaria einst nur von Menschen überlebt wurde, die – wegen einer zunächst zufälligen Mutation – kein Neu5Gc erzeugen konnten. Sie wurden unsere Vorfahren.

Genau daran könnte man diese auch erkennen, meint Ajit Varki. „In den vergangene­n Jahrzehnte­n wurden viele Fossilien von Hominiden entdeckt“, sagt er, „aber sie können nicht alle Vorfahren der modernen Menschen gewesen sein. Wahrschein­licher ist es, dass es viele menschenäh­nliche Arten gegeben hat, aber wir sind nur aus einer davon entstanden.“

So ist Varkis These: Die Mutation, die die Neu5Gc-Synthese unmöglich gemacht hat, habe sich vor circa zwei bis drei Millionen Jahren durchgeset­zt – als sich aus einer Art der Gattung Australopi­thecus die ersten Vertreter der Gattung Homo entwickelt­en. Mehr noch: Sie habe deren Abspaltung beschleuni­gt, durch eine Immunreakt­ion. Das Immunsyste­m von Menschen, die die Fähigkeit der Neu5Gc-Biosynthes­e schon verloren hatten, habe Glykane, die diese Sialinsäur­e tragen, als fremd erkannt, als Antigene, und eine Immunreakt­ion eingeleite­t. So könnten Spermien von Männern, die noch Neu5Gc erzeugten, von Frauen, die das nicht mehr taten, abgestoßen worden sein; das habe die Fortpflanz­ungsbarrie­re etabliert, die für die Aufspaltun­g einer Art in zwei Arten notwendig ist.

Gut, das ist Theorie, aber eine Art von Immunreakt­ion auf Neu5Gc findet noch heute in uns statt. Wir können diese Sialinsäur­e zwar nicht mehr produziere­n, aber in Glykane einbauen –

Glykane bedecken die Oberfläche aller Zellen, an sie heften sich auch Parasiten. Ein typisches Abbauprodu­kt von Neu5Gc wird in Knochen eingebaut.

wenn sie mit der Nahrung aufgenomme­n worden ist, vor allem aus rotem Fleisch. So sei Neu5Gc das erste bekannte „Xeno-Autoantige­n“in Menschen, schreiben Forscher um Varki in Pnas (11. 9.). Die Immunreakt­ion könne erklären, warum es ungesund ist, zu viel rotes Fleisch zu essen.

Der Umstieg der Ernährung auf fleischrei­chere Kost – erleichter­t durch die Erfindung des Bratens, Grillens und Kochens – hat freilich die Menschwerd­ung angetriebe­n. Auch wann dieser Umstieg stattgefun­den hat, will Varki aus Glykanen ablesen. Er hat eine Methode entwickelt, um ein typisches Abbauprodu­kt von Neu5Gc, das in Knochen eingebaut wird, in diesen zu messen. So könne man, meint er, drei Arten von Hominiden-Fossilien unterschei­den. Erstens solche, die viel von diesem Abbauprodu­kt enthalten: Sie sollten von Vormensche­n stammen, die Neu5Gc noch synthetisi­eren konnten. Zweitens solche, in denen sich dieses Abbauprodu­kt gar nicht nachweisen lässt: Sie stammen von Menschen, die schon zur Gattung Homo gehörten. Drittens solche jüngeren Datums, die kleine Mengen davon enthalten: Sie sind von Menschen, die bereits rotes Fleisch gekocht und gegessen haben.

Kein Wunder, dass die namhafte Paläoanthr­opologin Meave Leakey begeistert ist und auch als Autorin der Pnas- Arbeit aufscheint: „Weil DNA in den Tropen so rasch abgebaut wird, sind genetische Untersuchu­ngen von Fossilien, die mehr als ein paar Tausend Jahre alt sind, nicht möglich“, sagt sie: „So könnten Analysen von Glykanen eine neue Methode der Erforschun­g der Ursprünge des Menschen bilden.“

 ?? Wikipedia ?? Diesen Stoff kann unser Körper nicht (mehr) machen: Neu5Gc. Von Neu5Ac unterschei­det ihn nur die OH-Gruppe ganz unten.
Wikipedia Diesen Stoff kann unser Körper nicht (mehr) machen: Neu5Gc. Von Neu5Ac unterschei­det ihn nur die OH-Gruppe ganz unten.

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