Ein kleiner Unterschied
Menschen können einen zuckerähnlichen Stoff namens Neu5Gc nicht synthetisieren: Der Verlust dieser Fähigkeit könnte unsere Evolution geprägt haben.
Welche Mutationen haben uns menschlich gemacht? In welchen Genen liegt der Unterschied zwischen uns und unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen? Es zählt zu den großen Enttäuschungen, die uns die Genetik beschert hat, dass sie diese Fragen bis heute nicht beantworten kann. Immerhin gilt das Genom des Menschen seit 2003 als vollständig sequenziert, das des Schimpansen seit 2005. Angaben wie jene, dass die Genome zu 98,7 Prozent übereinstimmen, sind eher als Folklore zu verstehen, zumal, wenn nicht klar gesagt wird, welche DNA-Sequenzen wie verglichen wurden.
Oft genannt wird das Gen FoxP2, dessen menschliche Variante sich tatsächlich in zwei Basen von der äffischen unterscheidet. Doch es ist umstritten, ob man von einem „Sprachgen“sprechen kann oder ob es „nur“für die Artikulation wichtig ist. In den „Human Accelerated Regions“(DNAAbschnitte mit besonders vielen Unterschieden zwischen Mensch und anderen Wirbeltieren) finden sich Gene, die mit der Entwicklung des Großhirns zu tun haben – etwa HAR1F, das dazu bei- trägt, dass dieses bei Menschen so groß ist –, aber auch ein Gen, dessen menschliche Ausformung offenbar bewirkt, dass der Daumen bei uns eine besondere Rolle spielt. Vielleicht hat es auch mit dem aufrechten Gang zu tun.
Auf ein Gen, dessen Wirkung viel klarer ist, setzt Ajit Varki, ein Mediziner an der University of California, San Diego. Er ist auf eine besondere Art von Biomolekülen spezialisiert: auf Sialinsäuren. Diese heißen so, weil sie in der Spucke vorkommen. Chemisch leiten sie sich von Zuckermolekülen ab, und sie bilden oft die Enden von Ketten, die aus solchen zusammengesetzt sind: Glykane. Solche Glykane (die neben Zuckern auch Proteine enthalten) bedecken die Oberfläche aller Zellen, über sie läuft deren Kommunikation miteinander und mit der Außenwelt. Zu dieser gehören auch Wesen, die den Zellen nicht guttun, doch davon später.
In dieser süßen Hülle der Zellen liegt ein Unterschied zwischen Menschen und den meisten anderen Säugetieren. Sie haben dort zwei Arten von Sialinsäuren: N-Glycolylneuraminsäu- re (Neu5Gc) und N-Acetylneuraminsäure (Neu5Ac), wir haben nur die zweitere. Denn im Laufe der Evolution zum Menschen ist ein Gen durch eine Mutation funktionslos geworden, das – über das nach seiner Anleitung produzierte Enzym natürlich – bewirkt, dass Neu5Gc aus Neu5Ac wird.
Was kann bewirkt haben, dass sich diese Mutation durchgesetzt hat? Welchen Vorteil hat es unseren Vorfahren wohl gebracht, dass sie kein Neu5Gc mehr in die Hüllen ihrer Zellen eingebaut haben? Schuld ist wie so oft eine Krankheit: eine, die uns noch heute plagt, die Malaria. Sie wird von einzelligen Parasiten ausgelöst, die alle mit Familiennamen Plasmodium heißen und sich an die roten Blutkörperchen heften. Eine Art davon, Plasmodium reichenowi, befällt nur Schimpansen, nicht aber Menschen. Denn sie hängt sich an Neu5Gc, und das haben wir nicht. Es ist gut vorstellbar, dass eine Epidemie dieser Form von Malaria einst nur von Menschen überlebt wurde, die – wegen einer zunächst zufälligen Mutation – kein Neu5Gc erzeugen konnten. Sie wurden unsere Vorfahren.
Genau daran könnte man diese auch erkennen, meint Ajit Varki. „In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele Fossilien von Hominiden entdeckt“, sagt er, „aber sie können nicht alle Vorfahren der modernen Menschen gewesen sein. Wahrscheinlicher ist es, dass es viele menschenähnliche Arten gegeben hat, aber wir sind nur aus einer davon entstanden.“
So ist Varkis These: Die Mutation, die die Neu5Gc-Synthese unmöglich gemacht hat, habe sich vor circa zwei bis drei Millionen Jahren durchgesetzt – als sich aus einer Art der Gattung Australopithecus die ersten Vertreter der Gattung Homo entwickelten. Mehr noch: Sie habe deren Abspaltung beschleunigt, durch eine Immunreaktion. Das Immunsystem von Menschen, die die Fähigkeit der Neu5Gc-Biosynthese schon verloren hatten, habe Glykane, die diese Sialinsäure tragen, als fremd erkannt, als Antigene, und eine Immunreaktion eingeleitet. So könnten Spermien von Männern, die noch Neu5Gc erzeugten, von Frauen, die das nicht mehr taten, abgestoßen worden sein; das habe die Fortpflanzungsbarriere etabliert, die für die Aufspaltung einer Art in zwei Arten notwendig ist.
Gut, das ist Theorie, aber eine Art von Immunreaktion auf Neu5Gc findet noch heute in uns statt. Wir können diese Sialinsäure zwar nicht mehr produzieren, aber in Glykane einbauen –
Glykane bedecken die Oberfläche aller Zellen, an sie heften sich auch Parasiten. Ein typisches Abbauprodukt von Neu5Gc wird in Knochen eingebaut.
wenn sie mit der Nahrung aufgenommen worden ist, vor allem aus rotem Fleisch. So sei Neu5Gc das erste bekannte „Xeno-Autoantigen“in Menschen, schreiben Forscher um Varki in Pnas (11. 9.). Die Immunreaktion könne erklären, warum es ungesund ist, zu viel rotes Fleisch zu essen.
Der Umstieg der Ernährung auf fleischreichere Kost – erleichtert durch die Erfindung des Bratens, Grillens und Kochens – hat freilich die Menschwerdung angetrieben. Auch wann dieser Umstieg stattgefunden hat, will Varki aus Glykanen ablesen. Er hat eine Methode entwickelt, um ein typisches Abbauprodukt von Neu5Gc, das in Knochen eingebaut wird, in diesen zu messen. So könne man, meint er, drei Arten von Hominiden-Fossilien unterscheiden. Erstens solche, die viel von diesem Abbauprodukt enthalten: Sie sollten von Vormenschen stammen, die Neu5Gc noch synthetisieren konnten. Zweitens solche, in denen sich dieses Abbauprodukt gar nicht nachweisen lässt: Sie stammen von Menschen, die schon zur Gattung Homo gehörten. Drittens solche jüngeren Datums, die kleine Mengen davon enthalten: Sie sind von Menschen, die bereits rotes Fleisch gekocht und gegessen haben.
Kein Wunder, dass die namhafte Paläoanthropologin Meave Leakey begeistert ist und auch als Autorin der Pnas- Arbeit aufscheint: „Weil DNA in den Tropen so rasch abgebaut wird, sind genetische Untersuchungen von Fossilien, die mehr als ein paar Tausend Jahre alt sind, nicht möglich“, sagt sie: „So könnten Analysen von Glykanen eine neue Methode der Erforschung der Ursprünge des Menschen bilden.“