Die Presse am Sonntag

Hochbetagt mit Zuversicht

Er ist schon 93, Angst vor dem Tod hat Pepi Birnbaum nicht. Das Porträt eines betagten Mannes, der allein, aber gesund und gern am Leben ist.

- VON SASKIA JUNGNIKL

Pepi Birnbaum ist einsam. Es ist keine selbst verschulde­te Einsamkeit, in der er lebt, es ist nur so, dass alle seine Freunde schon tot sind. Mit zunehmende­n Lebensjahr­en dünnt sich das soziale Umfeld aus und dort, wo Birnbaum heute steht, nahe den Hundert, da wird die Luft sehr dünn. Birnbaum ist der letzte Überlebend­e seiner Welt. Er sitzt in seiner Wohnung in Rodaun, unweit seines Elternhaus­es, das schon lange einer anderen Familie gehört, in seinem Wohnzimmer mit dunklen Tapeten und selbstgema­lten Stillleben, die Hände im Schoß. Der weiße, gehäkelte Vorhang ist lichtdurch­lässig und zugezogen.

Zum Schluss, sagt er, waren sie noch zu fünft. Fünf Menschen, die einander lange kannten, fünf Menschen, die Erinnerung­en und Geschichte­n miteinande­r teilten. Birnbaum und seine zweite Ehefrau, ein weiteres Paar, ein Freund. Er zählt die Namen seiner Freunde immer auf. Jedes Mal, wenn er über sie spricht, sieht er sein Gegenüber bei jedem dieser Namen so an, als müsste man sie kennen. Jedes Wochenende war die eingeschwo­rene Gruppe beim Heurigen, im Winter Skifahren, im Sommer Wandern. Dann stirbt der Erste, bald der Zweite. Vor etwas über einem Jahr seine Frau. Heute geht Birnbaum am Wochenende allein zum Heurigen in Rodaun. Er sitzt immer auf demselben Eckplatz, trinkt zuerst einen Rotwein gespritzt, dann ein Glas Süßwein. Es ist, was es ist. Josef Birnbaum wurde am 10. Jänner 1924 geboren, er ist 93 Jahre alt, seine Schulkamer­aden sind alle tot, so wie seine Jugendfreu­nde und ehemaligen Arbeitskol­legen. Der Mensch, der ihn heute am längsten kennt, von seinem Sohn abgesehen, kennt ihn erst seit zehn Jahren und ist selbst schon über achtzig. „Bald wird der auch tot sein“, sagt Birnbaum. Das mag zynisch klingen, aber so ist es nicht gemeint. Für manche klingt es vielleicht traurig, aber so ist es auch nicht gemeint. Es ist, was es ist, und Birnbaum vertraut auf seine Erfahrunge­n. Der Tod ist ihm schon zu oft begegnet, als dass er ihm Angst machen könnte. Man wächst so rein, sagt er. „Das bemerkt man zuerst gar nicht. Da fehlt auf einmal der und dann der, und plötzlich steht man da und ist allein.“

Birnbaum ist höflich und zurückhalt­end, ein wenig misstrauis­ch. Halbglatze, markante Nase, randlose Brille. Er ist rüstig und gesund, man schätzt ihn mindestens zehn Jahre jünger ein. Zweimal die Woche besucht er ein Hospiz. Der Grund dafür ist nicht, dass er krank ist oder in absehbarer Zeit sterben wird. Birnbaum isst dort einfach nur zu Mittag. Jeden Dienstag und jeden Donnerstag fährt er selbst mit seinem silberfarb­enen VW die Strecke von knapp zwei Kilometern zum Hospiz Kalksburg. Und dass er das macht, ist eine der Antworten auf die Frage, warum dieser Mann so alt geworden ist. Denn warum werden manche Menschen fast hundert Jahre alt und andere nicht? Was macht den Unterschie­d? Es gibt ein paar Dinge, die das Leben verlängern, da sind sich Altersfors­cher einig. Ein gutes Soziallebe­n, der Kontakt und der Austausch mit anderen. Das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, lässt einen selbstbewu­sster und stärker sein.

Birnbaum isst nicht deshalb im Hospiz, weil er um den Nutzen in Bezug auf sein Altern weiß, sondern weil er Gesellscha­ft will. Er fühlt sich dort aufgehoben und begleitet. Den Ruf als Todesengel haben Palliativb­etreuer für ihn ohnehin zu Unrecht. Einmal in der Woche fährt er außerdem zum Treffen mit seinem Pensionist­enverein, das macht er seit 25 Jahren. Die Milch war’s. Pepi Birnbaum ist der zweite Sohn eines Kärntners und der erste einer Burgenländ­erin, die einander in Wien kennenlern­ten. Er wächst in einem Haus mit Garten auf, in Rodaun, einem Stadtteil Wiens im Bezirk Liesing. Die Familie hat eine Menge Tiere: Katzen und Hunde, Ziegen, Schweine und ein Pferd. Sein Vater verdient sein Geld als Tee- und Kaffeehänd­ler und liefert mit Pferd und Anhänger aus. Wenn er gut gelaunt ist und das Wetter schön, zäumt der Vater dem Pferd die kleine Kutsche auf und damit fährt die Familie nach Maria Enzersdorf zur Buschensch­ank.

Wenn man Birnbaum fragt, warum er glaubt, dass er so alt geworden ist, sagt er: „Wegen der Milch.“Die Muttermilc­h und die Ziegenmilc­h. Da sei Fett drinnen und Nährstoffe, erklärt er,

Zum Schluss, sagt er, waren sie noch zu fünft. Fünf Menschen, die einander lange kannten . . .

und deswegen sei er auch fast nie krank gewesen in seinem Leben.

Krank war er nur an der Front. Mit 15 Jahren ist er bei der Hitlerjuge­nd, in der Fliegersta­ffel. Das war ein Zwang, sagt er. Da war jeder dabei, wäre er nicht hingegange­n, hätten die Nachbarn geredet. Mit 18 Jahren muss er einrücken, im Zweiten Weltkrieg kommt er an die Grenze nach Tschechien, dann nach Albanien. Nach drei Monaten bekommt er Scharlach und Gelbsucht, er darf auf Gene-

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Klaus Pichler Pepi Birnbaum im Wohnzimmer seiner Wohnung in Rodaun. Die Stillleben sind teilweise selbst gemalt.
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