Pop-Riese mit Zuckerwattehaar
Der 28-jährige Londoner Benjamin Clementine verfügt über alles, was einen Popstar ausmacht. Nun bringt er sein zweites Album heraus. »Die Presse am Sonntag« traf ihn zum Gespräch.
Eine Gestalt in dunklem Umhang sitzt auf einem Baum, lugt durch ein Labyrinth, steht auf einer nebeligen Lichtung, Kinder leuchten mit Taschenlampen, Blumenblüten neigen sich im Wind, Vorhänge wehen mysteriös. Szenen eines Videos zu Benjamin Clementines wunderherrlichem „Phantom In Aleppoville.“Ein hochkünstlerisches Lied, das von der Struktur und vom Reichtum seiner Elemente den durchschnittlichen Popsong turmhoch überragt. Clementine, selbst ein Riese mit überraschend feminin aufgetürmtem Zuckerwattehaar, hat innerhalb weniger Jahre eine Entwicklung durchgemacht, die nicht absehbar war. Am wenigsten für ihn selbst.
Der in London geborene und aufgewachsene, heute 28-jährige Pianist und Sänger grundelte jahrelang als Obdachloser in Paris herum. Dort, in einer halligen Metrostation, erkannte er, dass er über eine Stimme verfügt, die Menschen wie ein heißes Messer ins Gemüt fahren kann. Das bisschen Hutgeld, das er verdiente, reichte noch längere Zeit nicht für einen festen Wohnsitz. „Wenn du nichts besitzt, dann bringst du dich entweder um oder du wirst Dieb. Mein Glück war, dass ich einen natürlichen Instinkt dafür habe, auch in Not nie meine Würde zu vergessen. Es gibt so etwas wie eine Intelligenz der Straße. Oft habe ich Geschäftsleuten angeboten, ihre Schaufenster zu putzen und dafür etwas zu essen zu bekommen. Auch in Nöten soll man über das Individuelle hinausdenken. Das Bedürfnis, meine Erfahrungen aufzuschreiben, hat mich letztlich aus dem Elend befreit.“ Vom Obdachlosen zum Star. Erste eigene Lieder entstanden, Clementine wurde von französischen Produzenten entdeckt. Vor zwei Jahren nahm er sein kammermusikalisches Debüt „At Least For Now“auf, für das er mit dem renommierten Mercury Prize bedacht wurde. Innerhalb kürzester Zeit wurde Clementine vom Obdachlosen zum Star. Sogar Karl Lagerfeld verlangte es nach ihm. Clementine spielte bei seinen Fashion Shows. Im Designeranzug. Aber bloßfüßig.
Am 29. September kommt sein zweites, überraschend kompromisslos tönendes Album „I Tell A Fly“in die Läden. Idealer Anlass, ihn persönlich zu treffen, spricht er doch mittlerweile gerne und viel über seine Intentionen. „Hat der Mercury Prize den Druck erhöht? Nein. Ich bin diese Art von Person, die immer danach trachtet, sich zu verbessern. Die Erwartungshaltung Dritter ist mir ziemlich egal. Über den Preis habe ich mich natürlich gefreut, aber in erster Linie geht es für mich darum, ein glaub- würdiger Künstler zu sein.“Zuletzt hat Clementine mit zwei Kollaborationen aufgezeigt. So sang er das amerikakritische „Hallelujah Money“auf dem jüngsten Album der Gorillaz. Noch aufsehenerregender war aber „You’ve Got To Learn“, ein Duett mit dem 1924 geborenen Charles Aznavour. „Das war schon super, aber ich denke, Aznavour hatte auch selbst nicht wenig davon. Auch jemand von seiner künstlerischen Statur braucht in dem fortgeschrittenen Alter, in dem er ist, die Bestätigung, immer noch relevant zu sein.“
An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. An großen Vorbildern noch weniger. „Als Kind verehrte ich vor allem Opernsänger. Luciano Pavarotti war mein erstes Idol. Popkünstler definierte ich damals noch nicht als Sän- ger.“Das hat sich natürlich geändert, als er selbst zum Akteur wurde. Heute schwärmt er von Antony Hegarty, Nina Simone und Leonard Cohen. Klang das erste Album noch eher verhalten, so greift das neue Werk in jeder Hinsicht in die Vollen. Abenteuerliche Instrumentierung und Arrangements sowie ein Pathos, an dem andere kläglich scheitern würden. „Mir war wichtig, viel Cembalo zu spielen sowie Synthesizer. In der Zwischenzeit habe ich nämlich den Elektronikpionier Isao Tomita schätzen gelernt. Was er mit Debussys ,Clair De Lune‘ anstellte, war echte Pionierarbeit.“
Thematisch fokussiert „I Tell A Fly“Flüchtlingsleid und Emigrationsprobleme. Clementine sieht seine Liedtexte in einer längeren Traditionslinie. Das schon erwähnte Lied „Phantom Of Aleppoville“birgt erratische Zeilen wie „For me the difference between love and hate weighs the same difference beween risotto and rice pudding.“Was da so kryptisch klingt, soll darauf hinweisen, dass sich der Mensch bewusst für das Böse (wie für eine Speise) entscheidet. „Ohne einem Relativismus huldigen zu wollen, scheint es mir manchmal so, als ob das Böse oft erst das Gute in Gang bringt. Hätten die Deutschen so viele Flüchtlinge aufgenommen, wenn nicht Adolf Hitler durch ihre jüngere Geschichte gegeistert wäre?“In Liedern wie „By The
Benjamim Clementine
wird 1988 als Benjamin SaintClementine in Crystal Palace/London geboren. 2008 geht er nach einem Streit mit der Freundin nach Paris. Von 2008–2011 lebt er obdachlos in Paris. Nimmt Hilfsarbeiten an, entdeckt seine Stimme in der Metro und beginnt, Songs zu schreiben. Singt auf der Straße, in Bars und Caf´es, wird entdeckt.
2013
nimmt er mit „Cornerstone“seinen ersten Song auf.
2015
Debütalbum „At Least For Now“.
Sein zweites Album
„I Tell A Fly“(Caroline/Universal) erscheint am 29. 9. Ports Of Europe“und „God Save The Jungle“nimmt Clementine die aktuelle fremdenfeindliche Haltung vieler Europäer aufs Korn. „Wir sind doch alle nur Wanderer auf dieser Welt. Ich finde es unakzeptabel, wenn etwa Marine Le Pen Menschen aus Afrika oder der arabischen Welt pauschal vorverurteilt. ,Paris Cor Blimey‘ ist ein ihr zugedach-
»Es geht für mich in erster Linie darum, ein glaubwürdiger Künstler zu sein.« Klang das erste Album noch eher verhalten, so greift das neue Werk ins Volle.
tes Spottlied. ,Blame it on the rats‘ singe ich darin. Was für eine unakzeptable Haltung, alles den andern in die Schuhe zu schieben. Im Leben sollte man vor allem auf sich selbst schauen. Ganz so wie es der große Michael Jackson sang: ,Look at the man in the mirror!‘“
Clementine verweist auf die lange Historie, die Paris als Ort des Asyls hat. „Paris, die Stadt der Poeten und Künstler, wie würde sie aussehen, wenn damals schon Politiker wie Le Pen das Sagen gehabt hätten. Sie hätte wohl auch Salvador Dal´ı den Aufenthaltstitel verweigert.“Kann er sich eine bessere Welt vorstellen, eine, die nicht von Gier getrieben ist? „Natürlich. Wir brauchen mehr Liebe in der Welt. Ich bin nicht naiv und weiß, dass auch sie ihren Preis hat. Aber als Vision ist sie wichtig.“