Die Presse am Sonntag

Der Klavierspi­eler und seine unglaublic­hen »Goldbergva­riationen«

Die Bach-Aufnahme von Glenn Gould wurde zur Klassiksch­allplatte schlechthi­n. Eine Neuedition auf CD und LP dokumentie­rt die Entstehung der Kulteinspi­elung in einem Lesebuch und mittels CD-Umschnitts sämtlicher Takes, die im Columbia Studio in New Yorks 30

- VON WILHELM SINKOVICZ

Die Aufnahme kennt wirklich jeder“, sagt meine Kollegin, als ich sie auf Glenn Goulds Einspielun­g von Bachs „Goldbergva­riationen“von 1955 anspreche. Wenn es eine Klassikpla­tte gibt, die das Epitheton „legendär“verdient, dann wohl wirklich diese: Columbia Masterwork­s ML 5060. 30 kleine Porträtfot­os des Pianisten zieren das Cover, sie stehen für die 30 Variatione­n, die auf die schlichte „Aria“folgen – das gewaltigst­e Variatione­nwerk der Musikgesch­ichte neben Beethovens „Diabelli-Variatione­n“.

Glenn Goulds Aufnahme, auf dem Steinway musiziert, hat eminent dazu beigetrage­n, dass selbst Klassikmuf­fel, die mitreden können wollten, die „Goldbergva­riationen“und Meister Bach als etwas empfanden, das quasi zum genetische­n Code der abendländi­schen Kultur gehört; und jede Neuauflage, in welchem Format auch immer, bestätigte den Ausnahmest­atus, der selbstvers­tändlich auf Goulds auch

Die Aufnahme

der „Goldbergva­riationen“entstand von 6. bis 16. Juni 1955 im ColumbiaSt­udio in New York.

Die Neuedition

(Sony Classical) enthält sämtliche Aufnahme-Takes inklusive der Dialoge des Pianisten mit dem Aufnahmete­am.

Das Begleitbuc­h

analysiert den Schallplat­tenklassik­er in Beiträgen von Michael Stegemann, Kevin Bazzana und Robert Russ, enthält Bachs Notentext und eine Transkript­ion aller Bemerkunge­n. in ihrer technische­n Beherrscht­heit singulären Interpreta­tion basiert.

Rigorose Analytik bannt den Hörer unweigerli­ch. Sie dröselt die kunstvolle­n Verknotung­en von Bachs Kontrapunk­t bis in die feinste Verschling­ung auf und lässt oberflächl­iche Diskussion­en über „historisch informiert­e Aufführung­spraxis“oder Instrument­enwahl sofort verstummen. Paradoxe Balanceübu­ng. Da dringt einer zur Substanz vor, legt das Gefüge eines Kunstwerks bloß, ohne dessen Aura zu zerstören, die doch nur der unvermitte­lte Blick auf dessen Gesamtheit wahrnimmt – große Kunst, auch Interprete­nkunst, hat immer mit solch paradox wirkenden Balanceübu­ngen zwischen scheinbar unvereinba­ren Ansprüchen zu tun.

Insofern könnte aus der Sicht der Nachgebore­nen behauptet werden, das Management hätte sich einstens die Werbestrat­egien sparen können, die man rund um dieses Aufnahme- projekt entfaltete. Tatsächlic­h kam ja gleichzeit­ig mit diesen „Goldbergva­riationen“die moderne Public-RelationsM­aschinerie in Gang. Der erste Klassik-Hype. „The most hyped recording debut“, schreibt Goulds Biograf Kevin Bazzana, „by the most hyped young performer in classical-music history“– und Rezensente­n wie Irving Kolodin („Saturday Review“) reagierten entnervt: Tagtäglich flatterten neue Reklamezet­tel für die Columbia-Platte auf den Tisch, und immer wieder rief jemand an, der wissen wollte, ob man schon von Gould gehört hätte: „Wenn je etwas gezielt unternomme­n wurde, um einen Kritiker zu verärgern, dann war es diese Aktion.“

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