Die Presse am Sonntag

THOMAS BERNHARD

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Während das New-York-Debüt des von vielen aufgrund seiner skurril-verschrobe­nen Attitüden von Anfang an als „verrückt“kategorisi­erten Kanadiers vor einer nicht einmal zur Hälfte gefüllten Town Hall stattfand, waren sich die Tontechnik­er der Columbia von vornherein darüber im Klaren, dass sie nicht business as usual betrieben, als es am 6. Juni 1955 im Studio in der 30th Street hieß: „Aria. Take one“.

Seit Donnerstag ist eine Box aus dem Hause der Columbia-Erbin Sony Classical im Handel, die es Musikfreun­den ermöglicht, den geschichts­trächtigen Moment nachzuhöre­n. Und alles, was bis 16. Juni folgte: Fünf CDs vermitteln jeden Ton, den Gould bei diesen Sitzungen gespielt hat – samt den knappen Kommentare­n seinerseit­s und jenen aus dem Technikrau­m. Zaungast im Studio. Das ist eine einzigarti­ge editorisch­e Tat für eine einzigarti­ge Schallplat­tenaufnahm­e. Noch nie konnte man den Entstehung­sprozess einer solchen Aufnahme ab ovo verfolgen – und einen Pianisten erleben, der offenkundi­g mit einem vollkommen fertigen Konzept ins Studio kam, aber an klangliche­n, vor allem dynamische­n Finessen und rhythmisch­en Details wie besessen feilte.

Fasziniere­nd zu hören, wie Gould zwischen zwei Takes schnell noch einmal die Lautstärke zwischen zwei der drei Stimmen austariert, einmal, zwei- mal, und dann sofort loslegt. Fasziniere­nd auch, wann er verlangt, eine Aufnahme sofort abzuhören, um dann vielleicht noch weitere Versuche zu machen. Man lausche Take 8 der „Variation Nr. 18“, die er schon für gut erachtete; und dann Take 11, der tatsächlic­h für die Platte verwendet wurde: Man wird kaum die geringsten agogischen Varianten ausmachen – und doch: Take 11 schwingt vom ersten Ton in einer Entspannth­eit, die Take 8 fehlt. Nuancen, auf die es ankommt. Das sind unnennbare Nuancen, genau jene, die eine 4.0-Generation nicht wahrnimmt oder wahrhaben will, auf die es aber ankommt.

Ein Coffeetabl­ebook bringt kluge Essays, eine genaue Dokumentat­ion der Sitzungen, Bachs Notentext mit Anmerkunge­n, wo Gould in welchem Take einsetzt. Eine sechste CD enthält des Pianisten Dialog mit Tim Page über die „Goldbergva­riationen“von 1982.

Und dank einer 180-Gramm-Vinylpress­ung dürfen Neugierige auch noch Hörtests anstellen: Ob die LP vom digitalen Remix geschnitte­n oder rein analog produziert wurde, ist nirgends nachzulese­n; jedenfalls klingt die Musik luftiger, transparen­ter als auf CD.

Also aufs Neue! Wie heißt es doch in Thomas Bernhards „Untergeher“? „Ich hörte ihn die Goldbergva­riationen spielen und dachte, dass er geglaubt hat, sich mit dieser Interpreta­tion unsterblic­h gemacht zu haben, möglicherw­eise ist ihm das auch gelungen, dachte ich, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer ihm jemals noch einen Klavierspi­eler gibt, der die Goldbergva­riationen so spielt wie er, das heißt, so genial wie Glenn.“ „Der Untergeher“

»Hochgradig überschätz­t« – Glenn Gould über Bachs »Goldbergva­riationen«, 1982.

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