Die Presse am Sonntag

»Das ist ein gefährlich­er Teufelskre­is«

Fehlende Kontrolle, gefährlich­e Fahrten, gefälschte Zertifikat­e und kaum Ausbildung: Missstände in der Pflege gibt es viele. Wovon wir reden, wenn wir von 24-Stunden-Pflege reden: Ein Hausbesuch bei einem »schwierige­n Fall«.

- VON CHRISTINE IMLINGER

Frau S. ist ein schwierige­r Fall, das weiß sie selbst. Zwar verbringt sie ihre Tage im Bett in der eleganten Altbauwohn­ung am Alsergrund, die Folgen der Multiplen Sklerose haben ihren Aktionsrad­ius mehr oder weniger darauf limitiert, aber das hindert sie nicht daran, sich zu behaupten. Wie der Haushalt geführt wird, wie sie gepflegt werden möchte, und wie überhaupt mit ihr umgegangen werden soll. Über die Jahre waren 20 Pflegerinn­en bei ihr. „Einer war ich zu aktiv, eine andere wollte lieber aufs Land, andere hören ganz auf als Pflegerin“, erzählt Frau S. Sie, eine elegante Frau, 67 Jahre, ist seit Jahren auf Hilfe angewiesen. 2002 wurde Multiple Sklerose diagnostiz­iert, mit jedem Schub wurde es schlechter.

„Das Hirn geht noch, die Füße nimma“, sagt sie, spricht mit schonungsl­oser Pragmatik über ihre Situation. Heben, Wickeln, lange Tage im Bett. Der Schmuck, den sie in dieser Zeit fertigt, füllt das Zimmer. Viel könne sie ja nicht mehr tun, sagt sie, Laptop und Smartphone in Griffweite, aber sich für ihre Pflegerinn­en einsetzen, das habe sie sich nun zur Aufgabe gemacht. Gefahr, wo niemand hinschaut. Denn da schaue niemand hin, auch nicht wenn es gefährlich wird. Bei Pflegemiss­ständen geht es meist um die Pflegebedü­rftigen, um Heime. Auch zu Recht, wie die jüngsten Skandale zeigen. Für die Pflegerinn­en werden im riesigen Komplex Pflege indes Kleinigkei­ten zur Gefahr: Die Fahrten in die Heimat etwa: Die Pflegetaxi­s Richtung Osteuropa, nennt Frau K., Pflegerin in diesem Fall, tickende Zeitbomben.

Ein Unfall vor wenigen Wochen hat sie, wie viele, erschütter­t. Es war einer der schwersten Unfälle seit Jahren: Ein Kleinbus prallt auf der A21 in Heiligenkr­euz gegen einen Brückenpfe­iler, fünf Menschen sterben. Im Auto waren Frauen aus Rumänien, sie waren als Pflegerinn­en in Deutschlan­d und auf dem Heimweg. Wie es zum Unfall kam, ist nicht restlos klar. Übermüdung, Sekundensc­hlaf? Die Ermittlung­en laufen.

Frau K. – aus Angst vor Repression­en durch ihre Agentur, will sie anonym bleiben – sieht die Sache klar: Unfälle kämen häufig vor, wenn auch weniger fatal. Sie selbst sitzt zwei Mal im Monat in solchen Fahrzeugen, das Geld, das Frau S. dafür zahlen muss, geht direkt an die Agentur in der Slowakei. Die Pflegerin berichtet von stundenlan­gen Odysseen, viel länger, als es sein müsste, schließlic­h würden Frauen an diversen Orten aufgesamme­lt, in kleinen, überladene­n Autos. Mit Fahrern, die nonstop nach Österreich und retour fahren. „Niemand prüft das. Ich bin neben einem Fahrer gesessen und habe ihn immer wieder aufgeweckt. Sie sind viel zu schnell unterwegs, sie haben großen Druck.“Andere Fälle bestätigen diese Praktiken. Mehr als 600 Agenturen vermitteln. Pflegerin K. kritisiert die „Knebelvert­räge“mit Agenturen in den Heimatländ­ern: „Außer der Vermittlun­g brauche ich von ihnen nichts, aber ich zahle 450 Euro jedes Jahr“. In Österreich sei ohnehin eine zweite Agentur zuständig. „Pflege ist dort eine Gelddruckm­aschine, eine Mafia, in der Slowakei oder Rumänien sind das reiche Leute. Jeder kann anfangen, Pflegerinn­en zu vermitteln oder zu fahren.“

Die Frauen würden in einem gefährlich­en Teufelskre­is stecken. Auch Sozialeinr­ichtungen in Österreich klagen über einen Wildwuchs von Agenturen und bestätigen fragwürdig­e Praktiken, etwa die Caritas. Mehr als 600 Agenturen sind in der Vermittlun­g aktiv. Diese müssen zwar seit 2016 das Gewerbe „Organisati­on von Personenbe­treuung“anmelden und sind damit an Regeln gebunden. Auch die Caritas etwa kritisiert, dass da Kontrolle fehle. Caritas, Hilfswerk oder Volkshilfe bekennen sich zu eigenen Qualitätss­tandards, aber die gelten ja nicht für alle.

Es heißt, Agenturen würden Frau-

Es gibt Knebelvert­räge, etwa für Fahrten in die Heimat. Oft sind das gefährlich­e Odysseen.

Langjährig­e Pflegerin in Wien.

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Reuters Auch einer von mehr als 30.000 Fällen von 24-Stunden-Pflege. Frau S. und Frau K., die Frauen aus dieser Geschichte, wollten sich nicht abbilden lassen.

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