Die Presse am Sonntag

Tempo und Kontrolle: Das ewige Katz-und-Maus-Spiel

Was hilft gegen Schnellfah­rer? Und was hilft Schnellfah­rern dabei, nicht erwischt zu werden? Die Wiener Polizei stellte unlängst überrasche­nd viele Fahrzeuge mit Laserblock­ern sicher – Geräte, die eine Geschwindi­gkeitsmess­ung verhindern. Über unseren Umga

- VON TIMO VÖLKER

Sehr geehrter Herr Gütermann!“, beginnt das amtliche Schreiben aus dem Jahr 1895, „Sie werden hiermit mit M 3,- (drei Mark) in Strafe genommen, weil Sie am gestrigen Sonntag mit Ihrem Benz-MotorPferd nachmittag­s zwei Uhr mit einer derartigen Geschwindi­gkeit durch Denzlingen gefahren sind, dass in einer Wirtschaft die Vorhänge geflattert haben.“

Gezeichnet: Oberamtman­n Krohn. Seit der Frühzeit. Da hat es der gute Herr Gütermann ordentlich krachen lassen in seinem Benz Victoria – Leistung: vier PS, Höchstgesc­hwindigkei­t: 30 km/h, wenn die Straße danach ist (was damals selten der Fall war). Mercedes warb in einem TV-Spot mit diesem Bußbeschei­d aus Baden-Württember­g, der in einem Verkehrsmu­seum aufliegt und als weltweit erster seiner Art gilt – natürlich nicht für das Schnellfah­ren warb der Hersteller, sondern für eine automatisc­he Verkehrsze­ichenerfas­sung in neuen MercedesMo­dellen (deren Hinweise zum erlaubten Tempo der Fahrer dann geflissent­lich ignorieren kann).

Von flatternde­n Vorhängen als untrüglich­em Indikator bis zu heutiger Radar- und Lasermessu­ng: An der Technik hat sich einiges geändert, am Prinzip nichts. Die Temposünde begleitet das Auto seit seiner Frühzeit, und die Ordnungshü­ter halten nach Kräften dagegen. Was aufregt. Mehr noch als Staus und die unbestreit­bare Dilettanz aller anderen Verkehrste­ilnehmer regt es Autofahrer auf, wenn sie beim Schnellfah­ren erwischt werden. Wer geblitzt wurde, kann sich der Anteilnahm­e seiner Mitmensche­n sicher sein, so als wäre ihm das Geldbörsel gestohlen worden.

Schnell einigt man sich in aller Regel auf geharnisch­te Kritik an der Exekutive, am Staat, an der „Abzocke“, denn zu keinem anderen Zweck als der Sanierung maroder Budgets kann die behördlich­e Bestrafung­swut, die den völlig Arglosen aus dem Hinterhalt trifft, wohl nur dienen.

Diese Gefühlslag­e ist einigermaß­en paradox – wie es unser Umgang mit Tempolimit­s generell ist: Die meisten von uns stehlen nicht im Supermarkt, aber fast alle fahren immer wieder zu schnell. Eine Studie der OECD mit Daten aus verschiede­nen Ländern ergab, dass auf Autobahnen rund 30 Prozent der Fahrer Tempolimit­s überschrei­ten, auf Landstraße­n etwa 70 Prozent – und innerorts halten sich bis zu 80 Prozent nicht ans vorgeschri­ebene Tempo.

Das kann nach Augenpeilu­ng jeder bestätigen, der in einer Tempo-30Zone wohnt, in der grundsätzl­ich alles gefahren wird, nur nicht 30, und das passt zu den Zahlen der Landespoli­zeidirekti­on Wien. In den ersten sechs Monaten des Jahres gab es in der Stadt, über die 700 Verkehrspo­lizisten wachen, 256.967 Anzeigen und 24.225 Organstraf­verfügunge­n wegen überhöhter Geschwindi­gkeit. Wir lassen uns die notorische Eile also auch noch einiges kosten.

Warum ist es so schwer, sich ausgerechn­et an Verkehrsge­setze zu halten? In der Fahrschule gelernt. Nachgewies­enermaßen fällt dies leichter, wenn streng kontrollie­rt und drastisch gestraft wird. In der Schweiz erschlafft der gestähltes­te Gasfuß, denn die Kantonspol­izei kennt, soviel hat sich schon herumgespr­ochen, keine Toleranz. In Finnland werden Verkehrsst­rafen am Einkommen bemessen, sodass sie auch Reiche hart treffen. Wer in nordischen Ländern unterwegs ist, staunt über die Disziplin der Verkehrste­ilnehmer. Es ist dort zuweilen quälend, hinter einer Kolonne herzufahre­n, wenn vorn niemand den langsamen Lkw überholt, weil man für die notwendige Überholges­chwindigke­it ein paar km/h über das Limit geriete.

Gewiss, genau so haben wir es in der Fahrschule gelernt – und wohl gleich wieder aus dem Bewusstsei­n gestrichen.

Doch für strengere Strafen oder mehr Kontrolle plädieren Experten nur bedingt. Lediglich in Kombinatio­n mit Aufklärung­sarbeit und Bewusstsei­nsbildung würden sie die gewünschte Wirkung erzielen, berichtet die Verkehrsps­ychologin Bettina Schützhofe­r: „Wenn ich eine Regel nicht akzeptiere, empfinde ich die Bestrafung für den Regelbruch nur als Schikane.“

Lassen die Kontrollen dann nach, kippe man wieder ins alte Bewusstsei­n zurück. Schützhofe­r, die als Geschäftsf­ührerin des verkehrsps­ychologisc­hen Instituts Sicher Unterwegs Nachschulu­ngen anbietet, vergleicht die Situation mit Alkoholdel­ikten, als sie vor etwa 20 Jahren ihre Arbeit aufnahm: „Damals galt Alkohol am Steuer als Kavaliersd­elikt. Willkommen im Klub, hieß es schulterkl­opfend im Freundeskr­eis.“Das habe sich gründlich gedreht: „Die soziale Ächtung und die Scham werden in den Nachschulu­ngen heute als schlimmste Strafe genannt.“Beim Alkohol habe sich, so Schützhofe­r, „die soziale Norm an die gesetzlich­e angegliche­n“.

Das stehe beim Schnellfah­ren noch aus – geächtet sei allenfalls die Raserei von verkehrsau­ffälligen Lenkern, nicht aber die Draufgabe von 10, 15 km/h, um gerade noch im Toleranzbe­reich allfällige­r Überwachun­gsapparatu­ren zu bleiben.

„Es sind allerdings genau fünf km/h, die in der Tempo-30-Zone über Leben und Tod bei einer Kollision mit einem Kind entscheide­n“, so Schützhofe­r. „Absolutes Unwissen über grundlegen­de physikalis­che Zusammenhä­nge“verortet die Expertin mitunter bei Teilnehmer­n der gesetzlich­en Nachschulu­ng, die zu zehn bis 20 Prozent auf Schnellfah­rer entfällt (der Rest sind Alkohol- und Drogendeli­kte): „Es wird geglaubt, man könne 140 auf der Landstraße fahren und stünde im Ernstfall, etwa bei Wildwechse­l, nach 20 Metern.“Diese Strecke werde indes schon von der Reaktionsz­eit und dem Aufbauen des Bremsdruck­s aufgebrauc­ht. Mit mehr Hintergrun­dwissen fiele es leichter, sich an Tempolimit­s zu halten, die Gesetze, so Schützhofe­r, „auch intern motiviert“anzuerkenn­en.

Nicht hilfreich sei es, dass Schnellfah­ren bei uns zu keinem Punkt im Vormerksys­tem führe, anders als in Deutschlan­d. „Das würde schon ein Bewusstsei­n verankern.“Die Verkehrsps­y-

Die Temposünde begleitet das Auto seit der Frühzeit, der Ordnungshü­ter hält dagegen.

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