Sehnsucht nach Gemütlichkeit
360 Grad: Die Wiener Wiesn endet heute mit einem Besucherrekord. Warum verkleiden sich Tausende Menschen und gehen auf ein Fest mit eigentlich unerträglicher Musik?
Es hat schon etwas: Ein Bierzelt voller Menschen, fast alle in Tracht, manche stehen auf den Tischen und schwenken Bierkrüge, andere sitzen und schunkeln, und alle, wirklich alle, singen lautstark mit: „Das allerschönste Stück davon ist doch die Heimat mein. Dort wo aus schmaler Felsenkluft der Eisack rauscht heraus. Von Sigmundskron der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus’.“Und dann wird gejodelt.
Es passt hier einiges nicht zusammen: Wir sind nicht bei einem Zeltfest in Tirol, die Heimat mein ist für die meisten Sänger Wien. Die Dirndln haben Fantasiefarben und bunte Muster, ein tannengrünes Mieder und eine goldfarbene Schürze bedeuten hier nicht, dass die Trägerin aus dem Tannheimer Tal kommt. Auch an der Schlaufe der Schürze muss man sich nicht orientieren, die bei den traditionellen Veranstaltungen zeigt, ob die Dame ledig ist (Schlaufe links) oder verheiratet (Schlaufe rechts). Die Lederhosen der Männer sind neu, ohne einen einzigen Fleck oder eine speckige Stelle. Noch nie hat sich jemand einen vom Grillhendl fettigen Finger daran abgewischt. Und der Umstand, dass die Hinterseite der Lederhose nicht vom stundenlangen Sitzen auf einer Bierbank abgewetzt ist, wie beispielsweise bei den Lederhosenträgern im Ausseerland, beweist, dass sie selten getragen wird.
Nein, das hier ist mehr ein Kostümball als ein uriges Tiroler Zeltfest. Aber das ist in diesem Fall völlig belanglos. Es geht nicht um eine Traditionsveranstaltung, sondern darum, dass ein paar Tausend Menschen einen ordentlichen Spaß haben. Und wenn sie dafür Dirndl und Lederhose tragen und Tirol zur Heimat erklären, wird das niemanden stören.
Es ist eigentlich bemerkenswert, dass die Wiener Wiesn erst zum sieb- ten Mal stattfindet und es mehrerer Anläufe und wechselnder Veranstalter bedurfte, bis sie endlich funktionierte. Wer schon einmal an einem Samstag in der völlig überfüllten Bettelalm in Wien war, deren Erfolg darauf beruht, eine Tiroler Skihütte von der Einrichtung bis zur Musik möglichst getreu zu kopieren, der weiß, dass dieses Konzept auch ein paar Nummern größer funktionieren muss.
Das tut es heuer ganz besonders: 350.000 Menschen werden es gewesen sein, wenn die Wiener Wiesn am heutigen Sonntag nach 18 Tagen ihre Tore schließt – so viele, wie noch nie. Der Umsatz in den drei Bierzelten und den fünf Almen belief sich in den vergangenen 18 Tagen auf zehn Millionen Euro, etwa 240.000 Liter Bier wurden getrunken und „rund 95 Prozent“der Besucher seien in Tracht gekommen, wissen die Veranstalter. Skihütte und Bierzelt. Warum aber verkleiden sich Tausende in erster Linie junge Großstädter als Landbewohner, meiden hippe Clubs und ausgefallene Raves und pilgern stattdessen an einen Ort, der eine Mischung ist aus Skihütte, Bierzelt und Schlagerkonzert?
Man könnte jetzt einen Bogen spannen von den Krisen dieser Welt zum Wunsch der Menschen nach Heimeligem und Bekanntem. Das Zeltfest und die Tracht als letztes Fixum, als Kontrapunkt zu einer globalisierten Welt, die immer schneller, moderner und komplizierter wird. Da braucht man wieder Einfaches und Lokales. Man könnte vielleicht sogar von einem neuen Konservativismus sprechen, ein Zurück zu den Wurzeln, ein Bekenntnis zur Heimat, die seit dem vergangenen Präsidentschaftswahlkampf kein exklusiver Begriff der Rechten mehr ist.
Man könnte aber auch einfach nur sagen, was Manfred aus Wien meint: „Des is a Riesenhetz.“Der 28-Jährige trägt – Gexi Tostmann würde wohl in Ohnmacht fallen – zur Lederhose ein T-Shirt und eine Baseballkappe. Es ist zweifellos nicht sein erstes Bier an diesem Abend und ganz sicher nicht sein letztes. Für ihn gilt, was „der lustige Hermann“am Nachmittag im Gösser- Bierzelt zu den Pensionisten, den „recycelten Teenagern“, gesagt hat: „Mit meiner heutigen Restfetten, könnt ich a jedes Fest retten.“
Manfred ist mit fünf Freunden hier und lässt sich diesen Abend einiges kosten: Der Eintritt samt Sitzplatz im Zelt hat pro Person 54 Euro gekostet. Dazu kommt die obligate Stelze um 13,10 Euro oder das Grillhendl um 10,20 Euro – und natürlich das Bier: eine Maß um 9,70 Euro. Einen Euro billiger als beim Oktoberfest in München, in Unmaßen genossen summiert sich das aber auch in Wien schnell. Unter 100 Euro geht hier keiner der sechs Freunde nach Hause.
Das hier ist mehr ein Kostümball als ein uriges Tiroler Zeltfest. Eine Maß kostet 9,70 Euro, für ein halbes Grillhendl muss man 10,20 Euro bezahlen.
Wobei gehen nach drei Stunden Bierzelt ein relativer Begriff ist. Man stützt sich gegenseitig. Manchmal greifen auch die vielen Ordner ein, um sicherzustellen, dass sich die Besucher an eines der Hausgebote halten: Das Urinieren abseits der Toiletten, das Wildpinkeln, ist streng untersagt – aber gang und gäbe.
Und am nächsten Tag hat einen der harte Wiener Alltag wieder. Keiner hat das so schön beschrieben, wie Ödön von Horvath´ in „Kasimir und Karoline“. Von der überdrehten Ausgelassenheit einer Nacht am Oktoberfest bleibt Karoline am Ende nur die bittere Erkenntnis: „Dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär’ man nie dabeigewesen.“
Halloween?
Alle reden von Halloween, wir reden von Kürbisfesten. Ein ganz spezielles gibt es weit oben im Weinviertel.