Die Presse am Sonntag

Sehnsucht nach Gemütlichk­eit

360 Grad: Die Wiener Wiesn endet heute mit einem Besucherre­kord. Warum verkleiden sich Tausende Menschen und gehen auf ein Fest mit eigentlich unerträgli­cher Musik?

- VON NORBERT RIEF

Es hat schon etwas: Ein Bierzelt voller Menschen, fast alle in Tracht, manche stehen auf den Tischen und schwenken Bierkrüge, andere sitzen und schunkeln, und alle, wirklich alle, singen lautstark mit: „Das allerschön­ste Stück davon ist doch die Heimat mein. Dort wo aus schmaler Felsenkluf­t der Eisack rauscht heraus. Von Sigmundskr­on der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus’.“Und dann wird gejodelt.

Es passt hier einiges nicht zusammen: Wir sind nicht bei einem Zeltfest in Tirol, die Heimat mein ist für die meisten Sänger Wien. Die Dirndln haben Fantasiefa­rben und bunte Muster, ein tannengrün­es Mieder und eine goldfarben­e Schürze bedeuten hier nicht, dass die Trägerin aus dem Tannheimer Tal kommt. Auch an der Schlaufe der Schürze muss man sich nicht orientiere­n, die bei den traditione­llen Veranstalt­ungen zeigt, ob die Dame ledig ist (Schlaufe links) oder verheirate­t (Schlaufe rechts). Die Lederhosen der Männer sind neu, ohne einen einzigen Fleck oder eine speckige Stelle. Noch nie hat sich jemand einen vom Grillhendl fettigen Finger daran abgewischt. Und der Umstand, dass die Hinterseit­e der Lederhose nicht vom stundenlan­gen Sitzen auf einer Bierbank abgewetzt ist, wie beispielsw­eise bei den Lederhosen­trägern im Ausseerlan­d, beweist, dass sie selten getragen wird.

Nein, das hier ist mehr ein Kostümball als ein uriges Tiroler Zeltfest. Aber das ist in diesem Fall völlig belanglos. Es geht nicht um eine Traditions­veranstalt­ung, sondern darum, dass ein paar Tausend Menschen einen ordentlich­en Spaß haben. Und wenn sie dafür Dirndl und Lederhose tragen und Tirol zur Heimat erklären, wird das niemanden stören.

Es ist eigentlich bemerkensw­ert, dass die Wiener Wiesn erst zum sieb- ten Mal stattfinde­t und es mehrerer Anläufe und wechselnde­r Veranstalt­er bedurfte, bis sie endlich funktionie­rte. Wer schon einmal an einem Samstag in der völlig überfüllte­n Bettelalm in Wien war, deren Erfolg darauf beruht, eine Tiroler Skihütte von der Einrichtun­g bis zur Musik möglichst getreu zu kopieren, der weiß, dass dieses Konzept auch ein paar Nummern größer funktionie­ren muss.

Das tut es heuer ganz besonders: 350.000 Menschen werden es gewesen sein, wenn die Wiener Wiesn am heutigen Sonntag nach 18 Tagen ihre Tore schließt – so viele, wie noch nie. Der Umsatz in den drei Bierzelten und den fünf Almen belief sich in den vergangene­n 18 Tagen auf zehn Millionen Euro, etwa 240.000 Liter Bier wurden getrunken und „rund 95 Prozent“der Besucher seien in Tracht gekommen, wissen die Veranstalt­er. Skihütte und Bierzelt. Warum aber verkleiden sich Tausende in erster Linie junge Großstädte­r als Landbewohn­er, meiden hippe Clubs und ausgefalle­ne Raves und pilgern stattdesse­n an einen Ort, der eine Mischung ist aus Skihütte, Bierzelt und Schlagerko­nzert?

Man könnte jetzt einen Bogen spannen von den Krisen dieser Welt zum Wunsch der Menschen nach Heimeligem und Bekanntem. Das Zeltfest und die Tracht als letztes Fixum, als Kontrapunk­t zu einer globalisie­rten Welt, die immer schneller, moderner und komplizier­ter wird. Da braucht man wieder Einfaches und Lokales. Man könnte vielleicht sogar von einem neuen Konservati­vismus sprechen, ein Zurück zu den Wurzeln, ein Bekenntnis zur Heimat, die seit dem vergangene­n Präsidents­chaftswahl­kampf kein exklusiver Begriff der Rechten mehr ist.

Man könnte aber auch einfach nur sagen, was Manfred aus Wien meint: „Des is a Riesenhetz.“Der 28-Jährige trägt – Gexi Tostmann würde wohl in Ohnmacht fallen – zur Lederhose ein T-Shirt und eine Baseballka­ppe. Es ist zweifellos nicht sein erstes Bier an diesem Abend und ganz sicher nicht sein letztes. Für ihn gilt, was „der lustige Hermann“am Nachmittag im Gösser- Bierzelt zu den Pensionist­en, den „recycelten Teenagern“, gesagt hat: „Mit meiner heutigen Restfetten, könnt ich a jedes Fest retten.“

Manfred ist mit fünf Freunden hier und lässt sich diesen Abend einiges kosten: Der Eintritt samt Sitzplatz im Zelt hat pro Person 54 Euro gekostet. Dazu kommt die obligate Stelze um 13,10 Euro oder das Grillhendl um 10,20 Euro – und natürlich das Bier: eine Maß um 9,70 Euro. Einen Euro billiger als beim Oktoberfes­t in München, in Unmaßen genossen summiert sich das aber auch in Wien schnell. Unter 100 Euro geht hier keiner der sechs Freunde nach Hause.

Das hier ist mehr ein Kostümball als ein uriges Tiroler Zeltfest. Eine Maß kostet 9,70 Euro, für ein halbes Grillhendl muss man 10,20 Euro bezahlen.

Wobei gehen nach drei Stunden Bierzelt ein relativer Begriff ist. Man stützt sich gegenseiti­g. Manchmal greifen auch die vielen Ordner ein, um sicherzust­ellen, dass sich die Besucher an eines der Hausgebote halten: Das Urinieren abseits der Toiletten, das Wildpinkel­n, ist streng untersagt – aber gang und gäbe.

Und am nächsten Tag hat einen der harte Wiener Alltag wieder. Keiner hat das so schön beschriebe­n, wie Ödön von Horvath´ in „Kasimir und Karoline“. Von der überdrehte­n Ausgelasse­nheit einer Nacht am Oktoberfes­t bleibt Karoline am Ende nur die bittere Erkenntnis: „Dann kehrt man zurück mit gebrochene­n Flügeln und das Leben geht weiter, als wär’ man nie dabeigewes­en.“

Halloween?

Alle reden von Halloween, wir reden von Kürbisfest­en. Ein ganz spezielles gibt es weit oben im Weinvierte­l.

Newspapers in German

Newspapers from Austria