Die Presse am Sonntag

»Vielleicht hatten wir einfach Glück«

Adrienne Friedlaend­er ist alleinerzi­ehende Mutter von vier Söhnen. Dennoch nahm sie auch noch einen 22-jährigen Flüchtling aus Syrien bei sich auf. Die Bilanz, die sie nach sieben Monaten zieht, fällt positiv-realistisc­h aus.

- VON DORIS KRAUS

Adrienne Friedlaend­er (55) trifft ihre Entscheidu­ngen am liebsten aus dem Bauch heraus. Und so sagte die alleinerzi­ehende Mutter von vier Söhnen zwischen zehn und 22 auch spontan Ja, als sie im November 2015 Mooaz traf, einen Flüchtling aus Syrien, genauso alt wie ihr ältester Sohn Justus.

Sieben Monate später zieht sie Bilanz: von der Begegnung im Schneemats­ch im Hamburger Erstaufnah­mezentrum bis zu dem Tag, an dem Mooaz in eine eigene Wohnung übersiedel­te. „Willkommen bei den Friedlaend­ers. Meine Familie, ein Flüchtling und kein Plan“heißt ihr bei Blanvalet erschienen­es Buch. Diese Bilanz ist überwiegen­d positiv. „Warum hat es bei uns funktionie­rt? Vielleicht hatten wir Glück mit Mooaz. Bestimmt hat aber auch geholfen, dass unser Haushalt kein Ponyhof ist“, sagt Friedlaend­er. Zur Selbststän­digkeit erzogen. Zwischen drei Buben in unterschie­dlichen Stadien der Pubertät (prä-, mitten drin und post-), einem Hund, einem Job und Haushalt gibt es nicht viel Spielraum. „Kein Anspruch auf Perfektion, Mut zur Lücke, einfach trauen“, lautet Friedlaend­ers Rezept. Das Resultat war, dass Mooaz sehr schnell auf eigenen Beinen stehen musste. „Mooaz ist zum Teil bei uns einfach mitgelaufe­n. Ich hatte nicht immer Zeit, ihn auf Behördenwe­gen zu begleiten, sondern habe ihn losgeschic­kt, mit dem Auftrag anzurufen, wenn es Probleme gab.“Bei wichtigen Terminen, wie dem Asylgesprä­ch, sei sie ihm aber natürlich beigestand­en.

Zuneigung und Unterstütz­ung gepaart mit klarer Abgrenzung waren Adrienne Friedlaend­er stets wichtig. „Wir haben unser Leben nicht umgestellt“, sagt sie. Als Realitäts-Checker fungierten dabei ihre drei noch zuhause lebenden Buben Johann (10), Juri (14) und Jonah (20). Am Anfang waren sie von dem neuen Familienmi­tglied hellauf begeistert, doch bald verloren vor allem die Älteren das Interesse und gingen zur Tagesordnu­ng über. Zwar nahmen sie Mooaz mit zum Fußball oder ins Fitness-Studio, doch als sich herausstel­lte, dass das nicht sein Ding war, machten sie weiter wie bisher.

Friedlaend­er bestand darauf, dass ihre Rolle rasch und klar definiert wurde. Sie wurde zu Mooaz’ „deutscher Mama“. Auf die Frage, ob das nicht ein bisschen schnell gegangen sei, meint sie: „Er wollte das so, und ich fand es auch hilfreich. Mooaz war so alt wie mein ältester Sohn, da ist es mir leicht gefallen, mich auf ihn einzulasse­n.“Die Mutter sei im Islam eine geschätzte Respektspe­rson, und damit war die Beziehung zueinander festgelegt. „Auf diese Weise konnte ich mit ihm auch über heiklere Themen sprechen, etwa über Hygiene, über Tischmanie­ren oder über Pünktlichk­eit.“

Der letzte Punkt sei einer der schwierige­ren im Zusammenle­ben mit Mooaz gewesen, meint Friedlaend­er. Er habe sich schwer getan, in der Früh aus dem Bett zu kommen, Termine eher lässig behandelt. Das habe doch zu einigen Reibereien geführt. Kein Messer unter dem Kopfkissen. Noch schwierige­r sei es gewesen, mit Mooaz’ depressive­n Phasen umzugehen, die ihn immer wieder in ein tiefes Loch fallen ließen. „Da muss man sich abgrenzen. Schließlic­h will man trotz Hilfeleist­ung sein Leben weiterlebe­n.“Auch das Messer, das er sich aus Sicherheit­sgründen unter das Kopfkissen legen wollte, habe sie ihm ausreden können. Bis heute weigere sich Mooaz allerdings hartnäckig, über seine Erlebnisse auf der Flucht zu sprechen.

Adrienne Friedlaend­er ist zufrieden mit dem, was sie in sieben Monaten erreicht hat. Mooaz habe verstanden, wie die Deutschen ticken. Er könne überall mitmachen und wisse, wie er sich zu benehmen habe. „Vor allem aber hat er heute einen anderen Ausdruck im Gesicht“, sagt sie.

Sie selbst habe einige Islam-Schubladen aufgemacht und neu geordnet, habe ihr eigenes Leben neu evaluiert. Besonders stolz ist sie aber auf ihre Familie: „Meine Jungs werden die Erfahrung nie vergessen, einem Menschen in Not die Türe zu öffnen.“Vor Kurzem stellte ihr Jüngster, Johann, fest, dass er nach dem Auszug seiner Brüder mit der Mutter allein bleiben werde: „Das halte ich auf keinen Fall aus“, sagte er. „Können wir dann bitte wieder einen Flüchtling aufnehmen?“

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Arndt Haug Im Strandkorb: Adrienne Friedlaend­er und Mooaz

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