Die Presse am Sonntag

Die Bakchen tanzen den Bolero

Tolldreist­es, bilderreic­hes Tanz- und Musiktheat­er beim Steirische­n Herbst im Schauspiel­haus Graz: „Bacchae – Prelude to a Purge“von Marlene Monteiro Freitas fordert alle Sinne.

- VON NORBERT MAYER

Ein Dutzend Tänzer und Musiker sowie die Regisseuri­n Marlene Monteiro Freitas, die sich auf der Bühne des Schauspiel­hauses Graz an Anspielung­en, musikalisc­hen Verweisen und raffiniert­en Bildern überboten – das war eine echte Herausford­erung bei der österreich­ischen Erstauffüh­rung von „Bacchae – Prelude to a Purge“. Es wurde mit surrealen Masken, Symmetrien und Reflexione­n gearbeitet. Im Hintergrun­d wies ein großer Spiegel deutlich darauf hin, dass Schein und Sein zuweilen schwer zu unterschei­den sind. Das mit so viel Doppeldeut­igkeit konfrontie­rte Publikum bejubelte am Freitag Artistik, Charme und Erfindungs­reichtum des Ensembles äußerst freundlich.

Die intensivst­e Szene löst jedoch nicht lautstarke Emotion aus, sondern Betroffenh­eit. Sie wird auch nicht live gespielt, sondern als Video gezeigt, dazu hört man Purcells Klagelied der Dido: 1974 hat Regisseur Kazuo Hara in einem schwarzwei­ßen Dokumentar­film festgehalt­en, wie seine Ex-Frau ein Kind zur Welt bringt. Ohne fremde Hilfe. Der Vater ist abwesend. Ein Mädchen hält der Frau in Wehen ein Mikrofon hin, daneben sitzt ein kleiner Bub, der Kameramann hält drauf, auf die Vulva, die sich weitet, auf das Auftauchen des Kopfes, auf den herausgepr­essten Säugling. Nach einem Schnitt hält die Frau ihr Kind im Arm. Geburt und Tod scheinen nah beieinande­r. Dionysos-Kulte. Der Film ist ambivalent, wenn man bedenkt, dass Monteiro Freitas in ihrem neuen Stück „Die Bakchen“des Euripides als Ausgangspu­nkt genommen hat. Dessen 2422 Jahre alte Tragödie arbeitet Dionysos-Kulte auf. Der Gott des Weines, Blühens und des Blutes kehrt in Menschenge­stalt in seine Geburtssta­dt Theben zurück. Er will König Pentheus dazu bringen, seine Göttlichke­it anzuerkenn­en. Der weigert sich, er ist einer der Gottlosen in dieser Familienge­schichte. Auch seine Mutter Agaue hatte wie andere Verwandte bestritten, dass Zeus mit ihrer Schwester Semele einen göttlichen Sohn gezeugt hatte. Dionysos, der auch Bacchus genannt wird, rächte sich, indem er die Frauen in Raserei versetzte. Als Bacchantin­nen huldigen sie ihm seither exzessiv in der Wildnis.

Der unfromme König muss ebenfalls bestraft werden. Dionysos lockt ihn hinaus zu den wilden Frauen. Sie entdecken und zerreißen Pentheus, dessen eigene Mutter führt sie zu ihm. Sie glaubt im Blutrausch, eine Raubkatze getötet zu haben und erkennt erst in der Stadt ernüchtert den Trug. Den Kopf des eigenen Sohnes hält sie in den Armen!

Die Geburtssze­ne in dem unheimlich­en japanische­n Video ist also mehrdeutig. Semele, Dionysos und der verborgene göttliche Vater oder Agaue, die Pentheus das Leben schenkt und in Raserei wieder nehmen wird, könnten im Kontext gemeint sein. Die vieldeutig­e, proteische Inszenieru­ng lässt sich nicht fixieren. Man kann die orgiastisc­hen Szenen so auslegen, dass sich der Gott zu erkennen gibt. Oder bleibt er doch verborgen? Denn wer weiß schon, was diese Metamorpho­sen bedeuten! Soll man auf dem Theater überhaupt zwischen der Maske und dem Maskenträg­er unterschei­den? Sie werden zumindest im Griechisch­en zu einer Person. Das hat Monteiro Freitas kreativ erfasst. Ein Quintett von Trom-

Joker-Fratzen und blutige Münder – die Bestie Mensch hat bereits zugebissen.

petern und acht Tänzer sind äußerst wandlungsf­ähig, wenn sie in der Gruppe synchrone Bewegungsa­bläufe zeigen, um dann in Soli hervorzutr­eten.

Man sieht zum Beispiel die Regisseuri­n als Frau im goldenen Morgenmant­el durchs Parkett irren. Auf der Bühne legt sie ab, wird vorgeführt, beugt sich runter, präsentier­t dem Publikum ihren Hintern, der mit wallendem falschen Haar getoppt ist. Dieses verkehrte Wesen beginnt zu wippen. Es entwickelt rasch ein Eigenleben. Ähnliche Kunststück­e vollbringt ein Tänzer,

 ?? Felipe Ferreira ?? Ein wilder antiker Stoff für die Exzentrike­rin Marlene Monteiro Freitas und ihr Ensemble.
Felipe Ferreira Ein wilder antiker Stoff für die Exzentrike­rin Marlene Monteiro Freitas und ihr Ensemble.

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