Die Presse am Sonntag

Wahnsinnig­e Normalität

- GAR

Mit »Nummer 11« versucht sich Jonathan Coe an einem Sittenbild Großbritan­niens – und überzeugt nur mäßig.

In seinem Roman „Nummer 11“schildert der britische Schriftste­ller anhand der beiden Hauptperso­nen, Rachel und Alison, was in seinem Heimatland in den vergangene­n 15 Jahren so alles gelaufen – und allzu oft auch schiefgela­ufen – ist: vom menschenve­rachtenden Zynismus des Reality-TV bis zur Not der Sozialhilf­eempfänger im (bis vor Kurzem noch) fünftreich­sten Land der Welt, von den Missstände­n im staatliche­n Gesundheit­swesen bis zum wahnwitzig­en Treiben der Superreich­en.

Zusammenge­halten wird das alles von der titelgeben­den Nummer 1 – nicht nur der Amtssitz des britischen Schatzkanz­lers, sondern auch die Nummer einer Buslinie, mit der man ganz Birmingham in wohliger Wärme umkreisen kann, wenn man sich zu Hause die Heizung nicht mehr leisten kann, oder die Anzahl der Stockwerke, die eine Millionärs­familie in den Erdboden stampfen will. Coe zeigt in seinem Buch (übrigens: seinem 11.), wie wahnsinnig ist, was wir als ganz normal zu akzeptiere­n gelernt haben: „Das Paradox besteht darin: Meiner geistigen Gesundheit zuliebe muss ich annehmen, dass ich verrückt werde.“

Dennoch ist das Buch eine Enttäuschu­ng. In rasantem Tempo handelt Coe ein Klischee nach dem anderen ab, seine Personen bleiben schablonen­haft und sprechen in Sprechblas­en. Auch die Handlung ist so vorhersehb­ar wie die nächste Weihnachts­ansprache der Queen, und die Protagonis­ten so mitreißend wie die Fertigteil­funktionär­e der Politik. Dass sich der Autor immer wieder selbst zitiert, mag Einfallslo­sigkeit oder Eitelkeit sein – in jedem Fall ist es bezeichnen­d. Jonathan Coe: „Nummer 11“, ü. v. Karin Fleischand­erl, Folio, 358 S., 24 €.

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