»Die Kolonialisierung ist mir egal«
Prix-Goncourt-Preisträgerin, Bestsellerautorin und Macron-Freundin: Le¨ıla Slimani über eine mörderische Nanny, ihre elsässische Großmutter – und sie als Kulturministerin? Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse.
Grauenhaft endet Ihr Roman „Dann schlaf auch du“über die Nounou, also die Nanny Louise und ihre Arbeitgeber, das bürgerliche Paar Myriam und Paul. Er ist einer der erfolgreichsten französischen Romane der letzten Jahre, und er hat 2016 den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Prix Goncourt gewonnen. Beim Lesen hat man das Gefühl, tief in sehr gegenwärtige soziale Beziehungen einzutauchen, zugleich in ein dunkles Märchen . . . Le¨ıla Slimani: Am Anfang wirkt Louise wirklich wie eine Mary Poppins, eine gute Fee, die das Leben dieses jungen Paars wie durch Zauberhand in Ordnung bringt. Allmählich verwandelt sie sich in eine Art böse Hexe. Ich wollte mit dieser Symbolik spielen, die mit der Welt der Kindheit verbunden ist. Louise lebt in schwierigen Verhältnissen, Myriam und Paul versuchen das perfekte Mittelschichtleben. Die ungesunde psychische Dynamik scheint hier von vornherein angelegt. Im Grunde bemüht sich hier ja jeder, keiner scheint ein böser Mensch zu sein. Natürlich, keiner ist hier böse, aber die Beziehungen sind sehr künstlich. Myriam und Paul spielen Theater, als würde Louise dazugehören, aber zugleich sind immer ungute Gefühle, ein Unbehagen da. Und alle tun so, als ob sie es nicht merken würden. „Dann schlaf auch du“hat nichts mit sozialem Realismus zu tun - auch wenn wir einiges über Louises traurige Ehe, die gescheiterte Beziehung zu ihrer Tochter, ihre Geldprobleme, ihre Gefühle erfahren: Man hat das Gefühl, draußen zu bleiben, an Louise bleibt etwas Ungreifbares. Diese Distanz zur Figur war mir auch
1981
Slimani wird in Rabat, Marokko geboren. Sie wächst dort auch auf.
1999
Studium in Paris, u. a. am Institut d’´etudes politiques de Paris (Sciences Po).
ab 2008
Journalistin für die Zeitschrift „Jeune Afrique“
2014
Slimanis erster Roman über eine sexsüchtige Frau erscheint: „Dans le jardin de l’ogre“.
2016
Für „Chanson Douce“(deutsch „Dann schlaf auch du“) gewinnt sie den Prix Goncourt.
2017
Der Essay „Sex und Lügen. Das sexuelle Leben in Marokko“erscheint. sehr wichtig. Ich wollte, dass Louise ein wenig im Dunkeln bleibt. Diese Situation kennt man ja auch, wenn man eine Nounou nimmt. Als Autorin gehe ich außerdem davon aus, dass die Wahrheit des Einzelnen uns verborgen bleibt, dass jeder in einer sehr großen Einsamkeit lebt. Haben düstere Märchen Sie schon als Kind fasziniert? Sehr. Meine Großmutter war Elsässerin, und sie hat uns viele beängstigende deutsche Sagen, Märchen und andere Kindergeschichten erzählt, Struwwelpeter zum Beispiel. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen. Das liebe ich auch heute an Kindern – sie lieben Monster, Oger, Wölfe, man kann so weit bei ihnen gehen mit schrecklichen Geschichten. Und das versuche ich auch in meinen Romanen. Sie haben Ihre Kindheit in der Stadt Rabat in Marokko verbracht. Ihr Vater war Marokkaner, Ihre Mutter halb Marokkanerin, halb Elsässerin. Wie kam Ihre Großmutter nach Marokko? Mein Großvater kam aus einer algerischen Familie und hat im Zweiten Weltkrieg in der französischen Armee gedient. Er hat das elsässische Dorf befreit, in dem meine Großmutter lebte, am Ende des Kriegs haben sie geheiratet und sind 1945 gemeinsam nach Marokko gegangen. Dort hat meine Großmutter 70 Jahre lang gelebt, vor zwei Jahren ist sie gestorben. Sie hat sehr gut Arabisch und Berberisch gesprochen, mit einem ganz starken deutschen Akzent. Ich glaube, sie hat das Land sehr geliebt. Interessiert Sie die elsässische Familiengeschichte? Ja, ja. Aber was mich interessiert, sind die Geschichten! Nicht, wie es wirklich war. Sie sind in Rabat in eine französische Privatschule gegangen. Früher gingen dort Kinder der lokalen Elite in die Schule, die im Dienst der französischen Kolonialherren waren. Wie wurde in Ihrer Kindheit über die Kolonialgeschichte gesprochen? Meine Eltern haben natürlich davon erzählt, sie haben darin gelebt. Meine Mutter zum Beispiel hatte eine französische Mutter und einen marokkanischen Vater, das war ganz und gar nicht leicht. Die Franzosen waren sehr rassistisch gegenüber ihrem Vater. Und ihre Mutter wurde von ihrer Familie abgelehnt, weil sie einen Marokkaner geheiratet hat. Wenige Jahre nach Emmanuel Macron haben Sie an der Grande ´Ecole Sciences Po studiert, einer traditionellen Eliteschmiede für staatliche Spitzenposten in Frankreich. Das ist eine von der Literatur sehr verschiedene Welt. Welche Vorstellung hatten Sie damals von Ihrer Zukunft? Gar keine, gerade deswegen habe ich dort studiert. Die Sciences Po ist sehr generalistisch und ich habe mich immer für aktuelle Politik interessiert, Geschichte, Wirtschaft, für die Art und Weise, wie unsere Welt funktioniert. Der Einrichtung wurde früher oft vorgeworfen, ein Einheitsdenken zu fördern und ein geschlossenes elitäres Milieu. In Ihrer Zeit gab es Versuche, sie zu öffnen. Wie haben Sie sie erlebt? Ich fand die Vielfalt unglaublich. Es war die Zeit, in der man begonnen hat, auch Studenten aus sogenannten Problemvierteln zu nehmen, die man in dieser Art Prestigeeinrichtung früher nicht gewohnt war. Außerdem war es so international. Ich kannte das aus Marokko nicht, und das hat mir sehr gefallen. Zum französischen Präsidenten und seiner Frau haben Sie ein sehr gutes Verhältnis, Sie haben Macron im Wahlkampf öffentlich unterstützt. Stimmt es, dass er Ihnen das Kulturministerium angeboten hat? Das möchte ich nicht kommentieren. Und ja, ich habe ein freundschaftliches Verhältnis, aber über meine Freunde rede ich prinzipiell nicht in der Öffentlichkeit. Gibt es hier in Frankfurt noch andere Fragen, die Sie nicht gern hören? Ja, man befragt mich hier so oft zur Kolonialgeschichte! Das ist eine mir fremde Realität, mein Großvater wurde kolonialisiert, nicht ich. Die Kolonialisierung ist mir egal, diese Obsession mit der Vergangenheit finde ich nicht zeitgemäß. Wir haben natürlich unsere alten Politiker in Marokko, die sagen, ja, die Kolonialgeschichte, an allem ist die Kolonialisierung schuld! Das ist billig. Reagieren Sie auf Fragen zum Islam auch so allergisch? Ja. Die Leute tun alle so, als ob sie eine Ahnung vom Islam hätten, obwohl sie tatsächlich kaum etwas darüber wissen. Außerdem ist der Islam in Saudiarabien nicht derselbe wie in Marokko oder Indien. Das war ein Fantasma der Islamisten, wir machen einen Islam überall auf der Welt. Und die anderen gehen in diese Falle. Die Leute fragen: Oh, Sie hatten keine Probleme in Marokko mit Ihrem Buch? Oh, Ihr Buch ist nicht zensuriert worden? Sie wissen nicht, dass es in Marokko starke Auseinandersetzungen gibt, dass dort vieles passiert ist. Ich bin schockiert über den Grad an Unwissenheit der Leute, was die maghrebinischen Länder betrifft. Die Marokkaner wissen über Europa viel mehr als die Europäer über Marokko. Zuletzt haben Sie einen sehr kritischen Essay über das sexuelle Leben in Marokko veröffentlicht, über die Verlogenheit der Gesellschaft. Für diese Kritik wurden Sie in Frankreich von manchen als Verräterin, als Handlangerin der „Weißen“attackiert. Ähnlich wurde der algerische Autor Kamel Daoud von linken Akademikern angegriffen, weil er nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht das Verhältnis zur Sexualität in seinem Land und die Rolle des Islam dabei kritisiert hat. Schockiert Sie diese heftige Kritik von Teilen der französischen Linken? Ehrlich gesagt, diese Leute sind mir völlig egal. Diese Leute repräsentieren niemanden und leben auf einem anderen Planeten. Auch Daouds Kritiker, die in ihren Büros auf den Universitäten sitzen, braucht man keine Aufmerksamkeit zu schenken. Für mich existieren diese Leute nicht. Eliteschule, Eliteuni, mit 35 preisgekrönte Bestsellerautorin: Ihre Laufbahn ist das krasse Gegenteil von Louises Leben. Wann haben