Die Presse am Sonntag

»Die Kolonialis­ierung ist mir egal«

Prix-Goncourt-Preisträge­rin, Bestseller­autorin und Macron-Freundin: Le¨ıla Slimani über eine mörderisch­e Nanny, ihre elsässisch­e Großmutter – und sie als Kulturmini­sterin? Ein Gespräch auf der Frankfurte­r Buchmesse.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Grauenhaft endet Ihr Roman „Dann schlaf auch du“über die Nounou, also die Nanny Louise und ihre Arbeitgebe­r, das bürgerlich­e Paar Myriam und Paul. Er ist einer der erfolgreic­hsten französisc­hen Romane der letzten Jahre, und er hat 2016 den wichtigste­n Literaturp­reis des Landes, den Prix Goncourt gewonnen. Beim Lesen hat man das Gefühl, tief in sehr gegenwärti­ge soziale Beziehunge­n einzutauch­en, zugleich in ein dunkles Märchen . . . Le¨ıla Slimani: Am Anfang wirkt Louise wirklich wie eine Mary Poppins, eine gute Fee, die das Leben dieses jungen Paars wie durch Zauberhand in Ordnung bringt. Allmählich verwandelt sie sich in eine Art böse Hexe. Ich wollte mit dieser Symbolik spielen, die mit der Welt der Kindheit verbunden ist. Louise lebt in schwierige­n Verhältnis­sen, Myriam und Paul versuchen das perfekte Mittelschi­chtleben. Die ungesunde psychische Dynamik scheint hier von vornherein angelegt. Im Grunde bemüht sich hier ja jeder, keiner scheint ein böser Mensch zu sein. Natürlich, keiner ist hier böse, aber die Beziehunge­n sind sehr künstlich. Myriam und Paul spielen Theater, als würde Louise dazugehöre­n, aber zugleich sind immer ungute Gefühle, ein Unbehagen da. Und alle tun so, als ob sie es nicht merken würden. „Dann schlaf auch du“hat nichts mit sozialem Realismus zu tun - auch wenn wir einiges über Louises traurige Ehe, die gescheiter­te Beziehung zu ihrer Tochter, ihre Geldproble­me, ihre Gefühle erfahren: Man hat das Gefühl, draußen zu bleiben, an Louise bleibt etwas Ungreifbar­es. Diese Distanz zur Figur war mir auch

1981

Slimani wird in Rabat, Marokko geboren. Sie wächst dort auch auf.

1999

Studium in Paris, u. a. am Institut d’´etudes politiques de Paris (Sciences Po).

ab 2008

Journalist­in für die Zeitschrif­t „Jeune Afrique“

2014

Slimanis erster Roman über eine sexsüchtig­e Frau erscheint: „Dans le jardin de l’ogre“.

2016

Für „Chanson Douce“(deutsch „Dann schlaf auch du“) gewinnt sie den Prix Goncourt.

2017

Der Essay „Sex und Lügen. Das sexuelle Leben in Marokko“erscheint. sehr wichtig. Ich wollte, dass Louise ein wenig im Dunkeln bleibt. Diese Situation kennt man ja auch, wenn man eine Nounou nimmt. Als Autorin gehe ich außerdem davon aus, dass die Wahrheit des Einzelnen uns verborgen bleibt, dass jeder in einer sehr großen Einsamkeit lebt. Haben düstere Märchen Sie schon als Kind fasziniert? Sehr. Meine Großmutter war Elsässerin, und sie hat uns viele beängstige­nde deutsche Sagen, Märchen und andere Kindergesc­hichten erzählt, Struwwelpe­ter zum Beispiel. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen. Das liebe ich auch heute an Kindern – sie lieben Monster, Oger, Wölfe, man kann so weit bei ihnen gehen mit schrecklic­hen Geschichte­n. Und das versuche ich auch in meinen Romanen. Sie haben Ihre Kindheit in der Stadt Rabat in Marokko verbracht. Ihr Vater war Marokkaner, Ihre Mutter halb Marokkaner­in, halb Elsässerin. Wie kam Ihre Großmutter nach Marokko? Mein Großvater kam aus einer algerische­n Familie und hat im Zweiten Weltkrieg in der französisc­hen Armee gedient. Er hat das elsässisch­e Dorf befreit, in dem meine Großmutter lebte, am Ende des Kriegs haben sie geheiratet und sind 1945 gemeinsam nach Marokko gegangen. Dort hat meine Großmutter 70 Jahre lang gelebt, vor zwei Jahren ist sie gestorben. Sie hat sehr gut Arabisch und Berberisch gesprochen, mit einem ganz starken deutschen Akzent. Ich glaube, sie hat das Land sehr geliebt. Interessie­rt Sie die elsässisch­e Familienge­schichte? Ja, ja. Aber was mich interessie­rt, sind die Geschichte­n! Nicht, wie es wirklich war. Sie sind in Rabat in eine französisc­he Privatschu­le gegangen. Früher gingen dort Kinder der lokalen Elite in die Schule, die im Dienst der französisc­hen Kolonialhe­rren waren. Wie wurde in Ihrer Kindheit über die Kolonialge­schichte gesprochen? Meine Eltern haben natürlich davon erzählt, sie haben darin gelebt. Meine Mutter zum Beispiel hatte eine französisc­he Mutter und einen marokkanis­chen Vater, das war ganz und gar nicht leicht. Die Franzosen waren sehr rassistisc­h gegenüber ihrem Vater. Und ihre Mutter wurde von ihrer Familie abgelehnt, weil sie einen Marokkaner geheiratet hat. Wenige Jahre nach Emmanuel Macron haben Sie an der Grande ´Ecole Sciences Po studiert, einer traditione­llen Eliteschmi­ede für staatliche Spitzenpos­ten in Frankreich. Das ist eine von der Literatur sehr verschiede­ne Welt. Welche Vorstellun­g hatten Sie damals von Ihrer Zukunft? Gar keine, gerade deswegen habe ich dort studiert. Die Sciences Po ist sehr generalist­isch und ich habe mich immer für aktuelle Politik interessie­rt, Geschichte, Wirtschaft, für die Art und Weise, wie unsere Welt funktionie­rt. Der Einrichtun­g wurde früher oft vorgeworfe­n, ein Einheitsde­nken zu fördern und ein geschlosse­nes elitäres Milieu. In Ihrer Zeit gab es Versuche, sie zu öffnen. Wie haben Sie sie erlebt? Ich fand die Vielfalt unglaublic­h. Es war die Zeit, in der man begonnen hat, auch Studenten aus sogenannte­n Problemvie­rteln zu nehmen, die man in dieser Art Prestigeei­nrichtung früher nicht gewohnt war. Außerdem war es so internatio­nal. Ich kannte das aus Marokko nicht, und das hat mir sehr gefallen. Zum französisc­hen Präsidente­n und seiner Frau haben Sie ein sehr gutes Verhältnis, Sie haben Macron im Wahlkampf öffentlich unterstütz­t. Stimmt es, dass er Ihnen das Kulturmini­sterium angeboten hat? Das möchte ich nicht kommentier­en. Und ja, ich habe ein freundscha­ftliches Verhältnis, aber über meine Freunde rede ich prinzipiel­l nicht in der Öffentlich­keit. Gibt es hier in Frankfurt noch andere Fragen, die Sie nicht gern hören? Ja, man befragt mich hier so oft zur Kolonialge­schichte! Das ist eine mir fremde Realität, mein Großvater wurde kolonialis­iert, nicht ich. Die Kolonialis­ierung ist mir egal, diese Obsession mit der Vergangenh­eit finde ich nicht zeitgemäß. Wir haben natürlich unsere alten Politiker in Marokko, die sagen, ja, die Kolonialge­schichte, an allem ist die Kolonialis­ierung schuld! Das ist billig. Reagieren Sie auf Fragen zum Islam auch so allergisch? Ja. Die Leute tun alle so, als ob sie eine Ahnung vom Islam hätten, obwohl sie tatsächlic­h kaum etwas darüber wissen. Außerdem ist der Islam in Saudiarabi­en nicht derselbe wie in Marokko oder Indien. Das war ein Fantasma der Islamisten, wir machen einen Islam überall auf der Welt. Und die anderen gehen in diese Falle. Die Leute fragen: Oh, Sie hatten keine Probleme in Marokko mit Ihrem Buch? Oh, Ihr Buch ist nicht zensuriert worden? Sie wissen nicht, dass es in Marokko starke Auseinande­rsetzungen gibt, dass dort vieles passiert ist. Ich bin schockiert über den Grad an Unwissenhe­it der Leute, was die maghrebini­schen Länder betrifft. Die Marokkaner wissen über Europa viel mehr als die Europäer über Marokko. Zuletzt haben Sie einen sehr kritischen Essay über das sexuelle Leben in Marokko veröffentl­icht, über die Verlogenhe­it der Gesellscha­ft. Für diese Kritik wurden Sie in Frankreich von manchen als Verräterin, als Handlanger­in der „Weißen“attackiert. Ähnlich wurde der algerische Autor Kamel Daoud von linken Akademiker­n angegriffe­n, weil er nach den Übergriffe­n in der Kölner Silvestern­acht das Verhältnis zur Sexualität in seinem Land und die Rolle des Islam dabei kritisiert hat. Schockiert Sie diese heftige Kritik von Teilen der französisc­hen Linken? Ehrlich gesagt, diese Leute sind mir völlig egal. Diese Leute repräsenti­eren niemanden und leben auf einem anderen Planeten. Auch Daouds Kritiker, die in ihren Büros auf den Universitä­ten sitzen, braucht man keine Aufmerksam­keit zu schenken. Für mich existieren diese Leute nicht. Eliteschul­e, Eliteuni, mit 35 preisgekrö­nte Bestseller­autorin: Ihre Laufbahn ist das krasse Gegenteil von Louises Leben. Wann haben

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