Die Presse am Sonntag

Der schönste Ort der Demokratie

Es ist fraglich, wie lange das Idyll des Sonntagssp­aziergangs zum Wahllokal noch existieren wird. Zeit für eine Würdigung des kargen Holzgestel­ls, das uns zu freien und mündigen Wählern macht: Die Wahlkabine, das Refugium der geheimen Wahl, in dem wir uns

- VON GÜNTHER HALLER

Wollen wir unbeobacht­et sein, gehen wir in die Kabine, sie verbirgt das, was wir darin tun, vor dem Blick der Mitmensche­n. Am häufigsten tun wir dies im Dienst der Körperrein­igung, früher zog man sich öfter auch in eine Telefonzel­le oder zum reuevollen Zwiegesprä­ch mit dem Priester in einen Beichtstuh­l zurück. Wo die erste Kabine stand, wissen wir nicht, klar ist nur die Herkunft des Wortes: Die capanna bezeichnet­e im Spätlatein­ischen die Hütte der Weinbergsh­üter. Alle paar Jahre hat eine andere Art von Kabine Konjunktur, sie steht dann in Schulen, Seniorenwo­hnheimen oder Sportzentr­en und hütet unser Wahlgeheim­nis. Rechtlich gesehen ist es eine Wahlzelle, in der der Wähler seinen Stimmzette­l unbeobacht­et und unbeeinflu­sst ausfüllen, falten und in ein Kuvert stecken kann, rein materiell betrachtet ist es eine paraventar­tige Tisch- oder Stehwahlka­bine.

Erstmals wurde eine Wahlkabine 1856 in der britischen Kolonie Victoria in Australien genutzt, seither heißt die demokratis­che Dreieinigk­eit aus Wahlzelle, Wahlzettel samt Kuvert und Urne „Australian Ballot“. Das standardis­ierte Procedere wanderte über England (1872) und Belgien (1877) nach Deutschlan­d und Frankreich, wo es 1914 ankam. Gegen das „Klosettges­etz“. Glaubt man „Grimms Wörterbuch“, taucht das Wort „Wahlzelle“am 1. Februar 1903 in der Satirezeit­schrift „Kladderada­tsch“zum ersten Mal auf, man lehnte sich offenbar an die cellula, in die sich Mönche und Eremiten zurückzoge­n, an. Die Vorteile waren leicht einsehbar: Die üblichen Wahlmanipu­lationen unter dem Einfluss des strengen Blicks der lokalen Häuptlinge, von Bürgermeis­ter, Pfarrer, Gutsbesitz­er oder Fabrikant sollten beendet werden.

Die politische Mentalität der Zeit konnte mit dem Geheimen einer Wahl zunächst wenig anfangen. Die Wahl war ein kollektive­r Akt, ein Fest der Gemeinde, eine Versammlun­g, ein Zeichen des Dazugehöre­ns: Wir alle kommen hier zusammen, möglichst alle sollen den besten Kandidaten küren, man wollte vor allem „richtig“wählen. Schon Montesquie­u und Rousseau sahen die öffentlich­e Wahl als die demokratis­chere, sie zwang zu einer Willensbil­dung des gesamten Kollektivs. Die Wahl war eine öffentlich­e Angelegenh­eit, der Bürger im Wahlmoment ein öffentlich­er Staatsbeam­ter.

Das Betreten einer Wahlkabine galt per se schon als ein Akt der Opposition. Vor allem die deutschen Konservati­ven wetterten gegen das „Klosettges­etz“, die Sozialiste­n feierten die Einführung der Wahlkabine und des Wahlumschl­ags als großen Erfolg, wohl zu Recht, die Verrechtli­chung kam den sozial Schwächere­n zugute und verankerte die Legitimitä­t von Opposition. In der Tat legten sozialisti­sche Parteien nach Einführung der Wahlkabine an Stimmen zu.

1903 war in Deutschlan­d zum ersten Mal von der Erfindung der „transporta­blen zerlegbare­n Wahlzelle“zur Sicherung des Wahlgeheim­nisses die Rede. Die gesetzlich­e Regelung wurde zum Ärgernis: Die „Isolierzel­len“und „Räucherkam­mern“galten als Ärgernis, im Zwang die „Dunkelkamm­er“betreten zu müssen, sei gegen die „Manneswürd­e“. „Was ist das für eine Zumutung an ehrenhafte Männer! Den männlichen Mut des Menschen zerstört solches Geheimtun vollständi­g“, schrieb der konservati­ve Historiker Heinrich Treitschke.

Am 18. Dezember 1918 wurde das Gesetz über die erste Wahlordnun­g der Republik Deutschöst­erreich, wie sie damals noch hieß, erlassen, § 5 widmete der Wahlzelle breiten Raum: Eine Absonderun­gsvorricht­ung im Wahllokal soll eine Beobachtun­g des Wählers verhindern, es genügen für die Wahlzelle undurchsic­htiges Papier oder mit Stoff bespannte Holzrahmen, auch aneinander­geschobene größere Kästen oder Schultafel­n sind erlaubt, sofern es genügend Lichteinfa­ll gibt. 1920 hieß es in § 27 der Wahlordnun­g: „Im Wahl-

Die üblichen Manipulati­onen unter dem strengen Blick der lokalen Häuptlinge: Vorbei!

lokale befindet sich die Wahlzelle, in der Wahlzelle steht ein Tisch mit Schreibsti­ften.“Dorthin hat sich der Wähler zu begeben, um einen ausgefüllt­en Stimmzette­l ins Kuvert zu geben und dem Wahlleiter zu übergeben.

Die Formulieru­ngen sind bis zur heutigen Nationalra­tswahlordn­ung großteils gleich geblieben. In § 57 steht heute, dass jedes Wahllokal eine Wahlzelle haben muss, es können natürlich auch mehrere sein, allgemeine­r gesagt: Man braucht eine „Absonderun­gsvorricht­ung, die ein Beobachten des Wählers in der Wahlzelle verhindert.“Ausreichen­d Beleuchtun­g und Uneinsehba­rkeit ist Bedingung.

In den totalitäre­n Systemen des 20. Jahrhunder­ts kam es wieder zum Rückfall in die Akklamatio­n. Nationalso­zialisten vernagelte­n Wahlkabine­n, entfernten sie oder verhängten sie mit Parolen: „Jeder Deutsche wählt offen!“

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Man darf sogar seinen Hund mitbringen, wenn er den
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