Die Phantom-Republik Katalonien
In Barcelona feierten die Anhänger enthusiastisch die Unabhängigkeit. »Wir machen weiter«, lautet ihre Losung. Die Separatisten rüsten zum Widerstand. Spanien setzte indessen Vizepremier Soraya Santamar´ıa als Krisenmanagerin in Katalonien ein.
An Tag eins der katalanischen Phantom-Republik weht noch die spanische Flagge über dem mittelalterlichen Regierungspalast in der Altstadt Barcelonas. Tausende Menschen, gehüllt in die Estelada – die katalanische Unabhängigkeitsfahne mit dem Stern – hatten am Freitagabend vor dem Palais mit Feuerwerk und Sekt die Unabhängigkeitserklärung gefeiert, überschwänglich „Freiheit, Freiheit, Freiheit“skandiert und gefordert: „Holt die spanische Fahne runter.“Doch am Samstag flatterte Spaniens Banner weiterhin und wie üblich neben der katalanischen Fahne auf dem Palastdach.
Auch sonst war am Tag nach der Abspaltungsresolution des katalanischen Parlaments in Barcelona nicht mehr viel Revolutionsstimmung auf den Straßen zu spüren. Ministerpräsident Carles Puigdemont, der die Unabhängigkeitserklärung vorangetrieben hatte, war am Samstag nicht mehr im Amt. Noch in der Nacht zum Samstag war der Beschluss der spanischen Regierung, die Separatistenführung in Barcelona wegen ihres rechtswidrigen Unabhängigkeitskurses zu entmachten, in Kraft getreten. Puigdemont war abgesetzt wie Dutzende seiner Mitstreiter und hohe Polizeioffiziere, die offen mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten. Auf sie warten, so Gerüchte, eigens und eilends bereitgestellte Villen im südfranzösischen Exil in Roussillon – in „Nordkatalonien“, wie es in der Diktion der Nationalisten heißt.
Derweil machten sich die Separatisten mit Durchhalteparolen Mut. ExPremier Puigdemont, der am Samstagnachmittag in einer kurzen Ansprache ankündigte, dass er sich nicht freiwillig zurückziehen werde, rief zum friedlichen Widerstand auf. „Wir werden weitermachen, um ein freies Land zu kon- struieren.“Ein Wink, dass er sich offenbar nicht für abgesetzt hält. Er forderte seine Anhänger auf, sich mit „demokratischer Opposition“gegen die Zwangsmaßnahmen der spanischen Regierung zu wehren und den Unabhängigkeitsbeschluss zu verteidigen. Er beendete seine dreiminütige Rede mit dem Ausruf: „Es lebe Katalonien!“
Gruppen, zu denen sich neuerdings Studenten, Aktivisten und Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, bereiten sich längst auf den zivilen Ungehorsam vor. Viele in Katalonien raunen auch von Störmanövern durch Bürgermeister und andere Offizielle. Eine Denkfabrik in Madrid warnt gar vor einem „Maidan“in Barcelona – vor einer Eskalation der Gewalt wie in Kiew.
Am Freitagabend, kurz bevor Madrid die Entmachtung des Rebellen verkündete, hatte Puigdemont die Öffent-
Prozent.
So viele Menschen haben am 1. Oktober für die Unabhängigkeit Kataloniens gestimmt.
Millionen.
So viele Stimmen wurden abgegeben, knapp die Hälfte der 5,3 Millionen Wahlberechtigten. lichkeit schon darauf eingestimmt, das in der spanischen Region derzeit nicht mit ruhigen Zeiten zu rechnen sei. „Bürger von Katalonien“, rief er mit dem obligatorischem Pathos, „in den nächsten Stunden müssen wir alle für unser Land kämpfen friedlich, mit Bürgersinn und Würde. So wie wir es immer gemacht haben.“Er beschwor die „Großartigkeit dieses Augenblicks“und bekräftigte „die Rechtmäßigkeit“des verkündeten Bruchs mit Spanien.
Minuten später hatte Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy in einer TV-Ansprache allseits zur Ruhe aufgefordert, jedoch bereits einen Eingreifplan verkündet, mit dem er Katalonien „so schnell wie möglich zur Normalität“zurückführen will: Dazu gehörte die Absetzung von Puigdemont, seiner Minister und auch von 150 Beratern. Auch die vorübergehende Übernahme der Kontrolle in der Verwaltung und in der katalanischen Polizei. Und vor allem die Auflösung des katalonischen Regionalparlaments und die Ansetzung von Neuwahlen kurz vor Weihnachten am 21. Dezember. Schließlich ließ der konservative Premier noch einen Eilantrag an das Verfassungsgericht schicken, das die nach spanischem Recht illegale Unabhängigkeitserklärung annullieren soll. „Hallo Republik!“Die Ausrufung einer „katalanischen Republik“und die umgehende Antwort Rajoys bestimmten die Schlagzeilen der Tageszeitungen: „Der Staat erstickt den Aufstand“, titelte Spaniens größte Tageszeitung, die in Madrid erscheinende „El Pa´ıs“. Die in Barcelona gedruckte katalanische Konkurrenz „El Periodico“´ schrieb in dicken Letteren auf der ersten Seite: „Rajoy stoppt die Unabhängigkeitserklärung – Wahlen am 21. Dezember.“Das Mediensprachrohr der Separatisten namens „El Punt Avui“begrüßte die Leser mit dem Jubelruf: „Hallo Republik!“
„Fünf Stunden existierte die katalanische Republik“, fasste „La Vanguardia“, Kataloniens größte Zeitung, die dramatische Stunden des Vortags zusammen. Eine Anspielung darauf, dass die Separatistenmehrheit im Regionalparlament um 15.27 Uhr einen „unabhängigen, souveränen, demokratischen und sozialen Staat“proklamiert hatte. Um 20.25 Uhr holte dann Rajoy die Unabhängigkeitsbewegung mit der Ankündigung der Zwangsmaßnahmen wieder in die Realität zurück. Zugleich hatten auch von der EU und den USA abwärts alle internationalen Institutionen klar gemacht, dass ein katalanischer Staat keine Chance auf internationale Anerkennung hat. Dass sich auch Mexiko dem Chor anschloss, war dann nur noch ein Apercu.¸ „Mein Herz weint mit ihnen“, sagte Kardinal Juan Jose´ Ornelia, der Erzbischof von Barcelona, der sich um einen Ausgleich bemüht.
Derweil rätselten die Menschen in Katalonien wie in ganz Spanien am Samstag, wie es nun, nach diesen spektakulären Stunden weitergeht. Die von Puigdemont angeführte Unabhängigkeitsbewegung will sich offenbar nicht geschlagen geben. Wie will Spaniens Regierung die Separatisten in die Knie zwingen? Was geschieht, wenn Puigdemont und seine Getreuen nicht freiwillig ihre Büros räumen und gegen die Madrider Anordnung weiterhin die Unabhängigkeit vorantreiben? Die neue starke Frau. Einige Antworten gab bereits die neue starke Frau in Katalonien. Man werde an die Vernunft appellieren und wenn dies nicht helfe, drohten strafrechtliche Folgen, sagte Spaniens Vize-Regierungschefin Soraya Saenz´ de Santamar´ıa. Die Stellvertrete- rin Rajoys wird bis zur Wahl einer neuen katalanischen Führung die Funktionen von Puigdemont übernehmen und als Krisenmanagerin agieren. Rajoys Minister werden in dieser Zeit das ordnungsgemäße Funktionieren der katalanischen Verwaltung überwachen.
Soraya, wie in Spanien fast alle die zierliche 46-Jährige nennen, die gerade einmal 1,50 Meter misst, gilt als Vertraute Rajoys – und als potenzielle Nachfolgerin. Schon jetzt apostrophieren sie Medien wie das Wirtschaftsblatt „El Economista“als „mächtigste Frau Spaniens“. Für sie ist die neue Aufgabe die große Bewährungsprobe. Als Diplomatin ist Santamar´ıa in dem Konflikt indessen nicht hervorgetreten. „Die Demokratie wird in Katalonien mit Füßen getreten“, erklärte sie sehr zum Unmut der Separatisten, die ihrerseits die unangemessene Gewalt der spanischen Polizei beim Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober beklagten. Soraya Saenz´ de Santamar´ıa verfügt allerdings über eine Eigenschaft, die ihr in der Auseinandersetzung zugute kommt: Sie zeigt sich ziemlich unerschrocken gegen Anfechtungen aller Art.
Immerhin gab es bereits ein paar freiwillige Rücktritte von politischen Spitzenbeamten in Katalonien: So nahm etwa der Generaldirektor der katalanischen Polizei, Pere Soler, seinen Hut. Die katalanische Polizei spielt eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Krisenregion, in der die Stimmung auf den Straßen zunehmend angespannt ist – selbst in Girona und Tarragona.
Die ersten, die die strafrechtlichen Folgen zu spüren bekommen, werden Puigdemont und seine Minister sein. Mit der spanischen Justiz ist in der Angelegenheit, die den Staat in höchste Not bringt, nicht zu spaßen. Dies haben schon zwei Führer der Unabhän- gigkeitsbewegung erfahren, die seit mehreren Wochen wegen Aufruhr in Haft sitzen. Spaniens Generalstaatsanwalt Jose´ Manuel Maza kündigte an, dass er am Montag vor dem Obersten Gerichtshof in Madrid Klage gegen die Verantwortlichen des Unabhängigkeitsbeschlusses erheben werde. Puigdemont wird Rebellion gegen den spanischen Staat vorgeworfen. Er muss mit einer Verhaftung rechnen und könnte zu 30 Jahren verurteilt werden.
Wahrscheinlich wird Puigdemont bei der von Madrid angeordneten Neuwahl in acht Wochen also zum Zuschauen verurteilt sein. Diese Wahl wird im Gegensatz zum Unabhängig-
Längst bereiten sich Gruppen auf Störmanöver und zivilen Ungehorsam vor. Mit Spaniens Justiz ist nicht zu spaßen. Das wird auch Carles Puigdemont merken. Mit der Ausrufung von Neuwahlen gelang Rajoy ein Überraschungscoup.
keitsreferendum am 1. Oktober, das vom Verfassungsgericht verboten worden war, ein legaler Urnengang sein. Und zwar einer, der zu einem indirekten Plebiszit über die Zukunft Kataloniens geraten könnte.
Die schnelle Neuwahl war ein echter Überraschungscoup des spanischen Premiers Rajoys, der die SeparatistenParteien kalt erwischte: Nun müssen sie sich entscheiden, ob sie an ihrem Ungehorsam festhalten und zum Boykott aufrufen, womit sie sich bei dieser Wahl selbst eliminieren würden. Oder ob sie sich den Wählern stellen wollen.
Die beiden größten Tageszeitungen Kataloniens begrüßten die Entscheidung Rajoys, die 7,5 Millionen Katalanen schnell an die Urnen zu rufen. „Es ist der Moment gekommen, dass die Urnen sprechen“, schrieb La Vanguardia. „Jetzt haben die Katalanen das Wort. Und zwar alle.“Zwei Drittel sprechen sich für diese Variante aus. Bei der letzten Wahl vor zwei Jahren hatten die Separatisten 47,8 Prozent der Stimmen erhalten und damit die knappe absolute Mehrheit im Parlament errungen. Madrid setzt darauf, dass nun viele kalte Füße bekommen werden.