Die Presse am Sonntag

Menschen, die niemals ankommen

Zwei Novitäten greifen die Flüchtling­sdebatte auf – einmal als Appell an Europa, einmal als Geschichte über Menschen, die am Rand zum Land der Verheißung straucheln.

- VON CLEMENTINE SKORPIL

Lang ging es in der politische­n Debatte in Europa vorwiegend um innereurop­äische Themen: die Bewältigun­g der von den USA herüberges­chwappten Finanzkris­e, die in die Eurokrise und die damit einhergehe­nde Griechenla­nd-Krise mündete. Seit 2015 aber dominiert eine Frage den Diskurs: die Migration. Kein Wunder, dass die Fluchtbewe­gung in zahlreiche­n Büchern mittlerwei­le auch literarisc­h verhandelt wird.

Auf dem Cover von Maxi Obexers Buch „Europas längster Sommer“steht als Gattungsbe­stimmung: „Roman“. Im Titel innen aber wird das Buch als Romanessay geführt, und tatsächlic­h trifft es diese Zuschreibu­ng besser. Ein Roman erfüllte die Vorgabe, zu erzählen statt zu erklären, zu ungenau, zu wenig. Viele Passagen legen abstrakt dar, was uns die Autorin sagen will. Für einen Essay aber wird zu viel Autobiogra­fisches eingewoben, mehr oder weniger singulär die Autorin betreffend, wenn auch jene Ausschnitt­e des Lebens gewählt wurden, die das Thema transporti­eren. Die Punzierung als Romanessay aber beantworte­t die Frage nicht, ob es ein gelungener Text ist.

Die Icherzähle­rin sitzt im Zug von Verona nach München. Ihr gegenüber sechs Jugendlich­e. Migranten, die hoffen, dass sie ihre Traumdesti­nation erreichen: Deutschlan­d. Das Schicksal der Männer hängt davon ab, ob auf dem Brenner kontrollie­rt wird. Die Optionen, die sich den Jugendlich­en dann eröffnen, sind: zurück zum Start oder abtauchen. Diese Jungen sind nicht die Einzigen, über die Obexer berichtet. Was Fremdsein bedeutet. Eigentlich geht es aber nicht um Schicksale, sondern um die Frage, was Europa ausmacht, was Fremdsein bedeutet. Hier macht die Autorin eine bekannte Beobachtun­g: dass das Fremdsein nicht auf die Fremden beschränkt ist. In Berlin angekommen, vollzieht sich ihr Coming-out. Ihre Partnerinn­en trifft sie unter anderem im „Gender-Cafe“.´ Die Frauen dort sind aus dem ehemaligen Osten. Es ist weniger die Zugehörigk­eit zur Gruppe der Lesben, weshalb sich die Frauen als anders als die anderen wahrnehmen, als vielmehr die – nach all den Jahren – immer noch spürbare Trennung in Ossis und Wes- Wer bestimmt, wer fremd ist? Die Literatur beschäftig­t sich mit der Flüchtling­skrise. sis, die sie als einschränk­end erleben. Obexer selbst ist auch hier eine Fremde, paradoxerw­eise nicht, weil sie Italieneri­n ist, sondern, weil ihr Outing keine Zerreißpro­be war, weder Familie noch Freunde wandten sich ab. Als sie die deutsche Staatsbürg­erschaft annimmt, sind ihre Freunde irritiert, wissen nichts anzufangen mit dem Bedürfnis nach nationaler Bestimmthe­it.

Auch diese Beobachtun­gen sind keine Antwort auf die Frage, ob der Text geglückt ist. Er ist es – insofern, als die Gedanken, die sich Maxi Obexer macht, es wert sind, gelesen zu werden, nicht nur ihrer Vielschich­tigkeit, sondern auch ihrer Perspektiv­e wegen: der, der immer und überall Fremden.

Obexers Buch endet mit den Flüchtling­en, die über das Mittelmeer kommen, während Andrej E. Skubics „Spiele ohne Grenzen“da ansetzt: im Nirgendwo auf dem Mare nostrum. Wer einen Roman mit Handlung – sehr spannender sogar – zur Lage der Flüchtling­e lesen will, hat mit diesem Buch das richtige gewählt. Skubic ent- wirft ein Szenario, in dem sich die EU des Problems entledigt hat, indem sie das Handling der Flüchtling­e privatisie­rt hat. Es gibt Unternehme­r, die Boote in unterschie­dlicher Qualität zur Verfügung stellen, und es gibt Vermittler, die in den Zielgegend­en, den reichen Ländern des Nordens, Lager errichten. Wer Arbeitskrä­fte benötigt, kann sich dort bedienen. Der Icherzähle­r ist ein psychisch zerrüttete­r Slowene, der ein makabres Geschäft betreibt: Er fährt mit seinem Boot hinaus und sammelt die Leichen jener ein, die in Seenot geraten sind. Manchmal gibt es Überlebend­e. Eine Frau mit Baby nimmt er mit, versteckt sie bei sich.

Während Obexer darauf dringt, dass die nationalen Grenzen überwunden werden, übt Skubic vor allem Kapitalism­uskritik: Der Mensch als Ware, so billig wie möglich. Jene aber, die sich dem System widersetze­n, die illegal da sind, sind vogelfrei. Es gibt kein Netz, das sie auffinge. So wird für sie auf grausame Weise der Weg zum Ziel, sie kommen niemals an. Maxi Obexer „Europas längster Sommer“Verbrecher Verlag 150 Seiten 19,60 Euro

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Reuters
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