Zwischen der Glorie der Habsburger und neuem Internet-Glanz
Joseph Roth beschrieb Lemberg als »kleine Filiale einer großen Welt«. Im Spannungsfeld zwischen nostalgisch verbrämter k. u. k-Ära und den Perspektiven des Internet-Zeitalters erfindet sich die westukrainische Stadt gerade neu – trotz der Schatten des Kri
Auf den Bänken des Prachtboulevards vor der Oper am Svobody Prospekt frönen Rentner angeregt dem Schach- und Kartenspiel. Blumenhändlerinnen mit Kopftuch und organisierte Roma-Frauengruppen auf Beutezug mischen sich im bunten Gewimmel unter die Touristen und Hochzeitspaare, die für ein Selfie posieren. Spätabends, als eine Schar pensionierter Offiziere in grauer Uniform und tellergroßen Kappen aus der Oper kommt, treiben sich zwielichtige Figuren auf dem Platz im Herzen Lembergs herum, um Nachtschwärmer und neuerdings verdächtig viele Sextouristen aus der Türkei in die Klubs und Rotlichtbars zu locken.
Tagsüber erschallen indessen ukrainische Schlager aus den 1980er- und 1990er-Jahren von einem Stand, drapiert mit einer gelb-blauen Fahne. Patrioten in modisch angesagten Camouflage-Hosen und olivgrünen Parkas sammeln hier für die Armee im fernen Osten des Landes und die Familien gefallener Soldaten. Der Krieg im Donbass, im offiziellen Jargon eine Anti-Terroroperation, ist selbst in Lemberg (Lviv) – mehr als 1000 Kilometer von der Front entfernt und damit weiter weg als Wien – gegenwärtig.
Wie die 22-jährige Diana, die zwei Freunde im Alter von 19 und 21 Jahren im Krieg gegen die von Russland gesteuerten Separatisten verloren hat, weiß fast jeder vom Krieg aus eigener, schmerzvoller Erfahrung zu berichten. „Ohne Lemberg hätte es den Maidan
Menschen leben in Lemberg (Lviv),
der siebtgrößten Stadt der Ukraine. Rund ein Sechstel davon sind Studenten.
Menschen arbeiten
allein in der ITBranche, einem der Hoffnungsmärkte der westukrainischen Stadt und während der Habsburgermonarchie Hauptstadt Galiziens und Lodomeriens. nicht gegeben“, behauptete Bürgermeister Andriy Sadovyi einmal. „Kiew ist das Herz der Ukraine, Lemberg die Seele.“Lemberger Studenten waren an vorderster Front, als die Demonstranten im Winter 2013/2014 am Maidan in Kiew gegen das Janukowitsch-Regime und für einen prowestlichen Kurs auf die Barrikaden gingen – und viele verteidigten ihre Werte und ihr Vaterland hernach mit Waffen in Luhansk und Donezk, den von sogenannten Rebellen proklamierten Volksrepubliken, gegen die Schergen Putins. „In den Jahren 2015 und 2016 hatten wir hier fast jede Woche ein pompöses Begräbnis“, sagt der Stadtführer Taras Zadoroshnyi. Bunkerstimmung in der Spelunke. Noch einmal, schwören viele in Lemberg und Kiew, werde sich die inzwischen schwer aufgerüstete ukrainische Armee nicht von russischen Kommandos überrollen lassen wie bei der Annexion der Krim im März 2014. Im Donbass, dem Schwerindustriegebiet an der russischen Grenze, tobt währenddessen ein Konflikt, der immer wieder aufflackert und längst nicht so „eingefroren“ist, wie manche im Westen denken. Eine Lösung scheint trotz der im Minsker Abkommen klar festgeschriebenen Rahmenbedingungen in weiter Ferne.
„Der Krieg köchelt auf Sparflamme“, beschreibt Publizist Yuri Durkot den Status quo – mit dem Effekt, dass die Entfremdung zwischen Kiew und Moskau größer sei denn je. In zehn Jahren, hoffen Regionalpolitiker in Lemberg, könnten die umstrittenen Territorien wieder unter Kontrolle Kiews kommen. „Die 6. US-Flotte im Schwarzen Meer und neue Sanktionen werden den Prozess beschleunigen“, heißt es. „Offiziell kann es sich kein ukrainischer Politiker leisten, den Anspruch aufzuge- ben“, weiß Durkot. „Für eine Rückgabe der Krim müsste ein Wunder geschehen“, glaubt dagegen Taras. Oder in den Worten Durkots: „Beten und Hoffen.“
Wer im „Kryivka“nach der Zukunft der okkupierten Gebiete fragt, erntet grimmige Blicke. Russen ist der Zutritt zu der Spelunke am Rynok, dem Marktplatz in Lemberg, nicht gestattet. Der „Sesam-öffne-dich“-Code für das Lokal mit dem rustikal-martialischen Charme, das einem Bunker nachempfunden ist und dessen Wände vor antiquierten Maschinenpistolen und Gasmasken strotzen, lautet denn auch: „No Russians“. Westlichen Augen erscheint das Ambiente vielleicht ein wenig augenzwinkernd, den Besitzern ist es damit durchaus ernst.
Eingegraben im Stellungskrieg und in einer Bun-
Die Front im Osten ist mehr als 1000 Kilometer entfernt – weiter weg als Wien.