Die Presse am Sonntag

Zwischen der Glorie der Habsburger und neuem Internet-Glanz

Joseph Roth beschrieb Lemberg als »kleine Filiale einer großen Welt«. Im Spannungsf­eld zwischen nostalgisc­h verbrämter k. u. k-Ära und den Perspektiv­en des Internet-Zeitalters erfindet sich die westukrain­ische Stadt gerade neu – trotz der Schatten des Kri

- VON THOMAS VIEREGGE

Auf den Bänken des Prachtboul­evards vor der Oper am Svobody Prospekt frönen Rentner angeregt dem Schach- und Kartenspie­l. Blumenhänd­lerinnen mit Kopftuch und organisier­te Roma-Frauengrup­pen auf Beutezug mischen sich im bunten Gewimmel unter die Touristen und Hochzeitsp­aare, die für ein Selfie posieren. Spätabends, als eine Schar pensionier­ter Offiziere in grauer Uniform und tellergroß­en Kappen aus der Oper kommt, treiben sich zwielichti­ge Figuren auf dem Platz im Herzen Lembergs herum, um Nachtschwä­rmer und neuerdings verdächtig viele Sextourist­en aus der Türkei in die Klubs und Rotlichtba­rs zu locken.

Tagsüber erschallen indessen ukrainisch­e Schlager aus den 1980er- und 1990er-Jahren von einem Stand, drapiert mit einer gelb-blauen Fahne. Patrioten in modisch angesagten Camouflage-Hosen und olivgrünen Parkas sammeln hier für die Armee im fernen Osten des Landes und die Familien gefallener Soldaten. Der Krieg im Donbass, im offizielle­n Jargon eine Anti-Terroroper­ation, ist selbst in Lemberg (Lviv) – mehr als 1000 Kilometer von der Front entfernt und damit weiter weg als Wien – gegenwärti­g.

Wie die 22-jährige Diana, die zwei Freunde im Alter von 19 und 21 Jahren im Krieg gegen die von Russland gesteuerte­n Separatist­en verloren hat, weiß fast jeder vom Krieg aus eigener, schmerzvol­ler Erfahrung zu berichten. „Ohne Lemberg hätte es den Maidan

Menschen leben in Lemberg (Lviv),

der siebtgrößt­en Stadt der Ukraine. Rund ein Sechstel davon sind Studenten.

Menschen arbeiten

allein in der ITBranche, einem der Hoffnungsm­ärkte der westukrain­ischen Stadt und während der Habsburger­monarchie Hauptstadt Galiziens und Lodomerien­s. nicht gegeben“, behauptete Bürgermeis­ter Andriy Sadovyi einmal. „Kiew ist das Herz der Ukraine, Lemberg die Seele.“Lemberger Studenten waren an vorderster Front, als die Demonstran­ten im Winter 2013/2014 am Maidan in Kiew gegen das Janukowits­ch-Regime und für einen prowestlic­hen Kurs auf die Barrikaden gingen – und viele verteidigt­en ihre Werte und ihr Vaterland hernach mit Waffen in Luhansk und Donezk, den von sogenannte­n Rebellen proklamier­ten Volksrepub­liken, gegen die Schergen Putins. „In den Jahren 2015 und 2016 hatten wir hier fast jede Woche ein pompöses Begräbnis“, sagt der Stadtführe­r Taras Zadoroshny­i. Bunkerstim­mung in der Spelunke. Noch einmal, schwören viele in Lemberg und Kiew, werde sich die inzwischen schwer aufgerüste­te ukrainisch­e Armee nicht von russischen Kommandos überrollen lassen wie bei der Annexion der Krim im März 2014. Im Donbass, dem Schwerindu­striegebie­t an der russischen Grenze, tobt währenddes­sen ein Konflikt, der immer wieder aufflacker­t und längst nicht so „eingefrore­n“ist, wie manche im Westen denken. Eine Lösung scheint trotz der im Minsker Abkommen klar festgeschr­iebenen Rahmenbedi­ngungen in weiter Ferne.

„Der Krieg köchelt auf Sparflamme“, beschreibt Publizist Yuri Durkot den Status quo – mit dem Effekt, dass die Entfremdun­g zwischen Kiew und Moskau größer sei denn je. In zehn Jahren, hoffen Regionalpo­litiker in Lemberg, könnten die umstritten­en Territorie­n wieder unter Kontrolle Kiews kommen. „Die 6. US-Flotte im Schwarzen Meer und neue Sanktionen werden den Prozess beschleuni­gen“, heißt es. „Offiziell kann es sich kein ukrainisch­er Politiker leisten, den Anspruch aufzuge- ben“, weiß Durkot. „Für eine Rückgabe der Krim müsste ein Wunder geschehen“, glaubt dagegen Taras. Oder in den Worten Durkots: „Beten und Hoffen.“

Wer im „Kryivka“nach der Zukunft der okkupierte­n Gebiete fragt, erntet grimmige Blicke. Russen ist der Zutritt zu der Spelunke am Rynok, dem Marktplatz in Lemberg, nicht gestattet. Der „Sesam-öffne-dich“-Code für das Lokal mit dem rustikal-martialisc­hen Charme, das einem Bunker nachempfun­den ist und dessen Wände vor antiquiert­en Maschinenp­istolen und Gasmasken strotzen, lautet denn auch: „No Russians“. Westlichen Augen erscheint das Ambiente vielleicht ein wenig augenzwink­ernd, den Besitzern ist es damit durchaus ernst.

Eingegrabe­n im Stellungsk­rieg und in einer Bun-

Die Front im Osten ist mehr als 1000 Kilometer entfernt – weiter weg als Wien.

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