»Die USA von ihrer besten Seite«
Mit seiner Doku »Ex Libris – The New York Public Library«, die heute im Rahmen der Viennale zu sehen ist, setzt Kinolegende Frederick Wiseman dem aufgeklärten, demokratischen Amerika jenseits von Präsident Donald Trump ein filmisches Denkmal.
Es klingt wie die Quadratur des Kreises: eine Kinodokumentation über eine Bibliothek, die fast dreieinhalb Stunden dauert, völlig ohne Kommentare oder Erklärungen auskommt – und dennoch keine einzige Sekunde lang langweilig ist. Frederick Wisemans Porträt der The New York Public Library, der viertgrößten Bibliothek der Welt, ist ein weiterer Teil seiner Filmserie über USamerikanische Institutionen.
Der US-Amerikaner beobachtet darin die Arbeit an den vielen verschiedenen Bibliotheksstandorten in der Metropole – von Hausaufgabenhilfe bei Schulkindern über Angebote zur Jobsuche bis zu wissenschaftlichen Vorträgen. Ohne direkte Interviews zu führen ermöglicht Wiseman mit dem Mammutwerk einen spannenden Blick hinter die Kulissen. „Ex Libris“, der heute um 16 Uhr im Zuge der Viennale in der Urania zu sehen ist, wird so zu einer Würdigung dieser Ausnahme-Institution.
Doch nicht nur seine Filme, auch der Künstler selbst ist ein Stück Zeitgeschichte. Wiseman, geboren 1930, erlebte 15 US-Präsidenten, drehte über 40 Dokumentar- und zwei Spielfilme, 2016 erhielt er den Ehren-Oscar für sein Lebenswerk. Außerdem war und ist er ein politischer Mensch, dem das Wesen der Demokratie am Herzen liegt: „Die Schriftstellerin Toni Morrison sagt in meinem Film, dass die Bibliothek die wichtigste demokratische Institution von allen ist. Und das Amerika, das ich zeige, ist genau das Gegenteil von Trumps Amerika.“ Welches Verhältnis haben Sie zu Büchern? Frederick Wiseman: Ich lese sie. Ich lese sehr viel, und ich kaufe ständig neue Bücher. Ich lese nie etwas online, ich lerne sehr viel Neues aus Büchern. Gehen Sie selbst regelmäßig in eine Bücherei? Als ich jung war, habe ich mir die Bücher hauptsächlich aus der Bücherei geholt – heute kaufe ich sie mir. Ich hatte schon seit Jahren keine Bibliothek mehr betreten, bevor ich diesen Film gedreht habe. Wie geht man heran an einen Film über eine Bücherei? Eine zentrale Frage. So spannend Bücher selbst sind, es ist nicht sehr aufregend, sie zu filmen. Menschen, die Seiten umblättern? Das ist visuell auch nicht besonders spannend. Jeder weiß, dass es in der Bücherei Bücher gibt. Was aber nicht jeder weiß, ist, was da eben alles sonst noch passiert. Wenn Sie zu drehen beginnen, wissen Sie da schon in etwa, wie lang der fertige Film sein soll? Nein, überhaupt nicht. Bei keinem meiner Filme. Die Länge steht erst dann fest, wenn ich mit dem Schnitt fertig bin. Ich denke auch nicht darüber nach. Ich zeige komplexe Themenbereiche, und es wäre den Menschen gegenüber, die mir das möglich gemacht haben unfair, sie zu simplifizieren, nur um irgendeinem Zeitformat gerecht zu werden. Klar sind da die TVStationen unglücklich. Was Sie machen, scheint fast unmöglich: einen mehr als dreistündigen Film über eine Bibliothek zu drehen, der ohne Interviews auskommt und dennoch nicht langweilig wird. Wie schaffen Sie das? Ich arbeite hart daran, mein Material so interessant wie möglich zu gestalten. Das ist natürlich eine recht nichtssagende Antwort – aber ich habe keine bessere. Es gibt da keine Heureka-Methode. Ich setze mich einfach an den Schneidetisch und versuche, meine Sache gut zu machen.
1930
wurde Frederick Wiseman in Boston geboren.
Seit 1967
arbeitet er als unabhängiger Dokumentarfilmer und erkundet Institutionen wie Schulen, Spitäler, Ämter, Gerichtshöfe und Gefängnisse. Seine Filme werden regelmäßig bei der Viennale gezeigt. 2016 bekam er den EhrenOscar. Wie haben Sie schließlich die Szenen für Ihren Film gefunden? Ich habe mich über die monatliche offizielle Aussendung der Library informiert. Außerdem gab es einige hilfreiche Mitarbeiter, die mich auf diverse Events hingewiesen haben und für mich um Drehgenehmigung gebeten haben. Und vieles entstand durch puren Zufall: Ich wusste, dass ich in der Filiale in Harlem drehen wollte. Und ausgerechnet an dem Tag, den ich dafür ausgesucht habe, fand dort ein Meeting statt, wo ein Kunsthistoriker über afroamerikanische Kulturgeschichte sprach – was wiederum bestens zu einigen anderen Szenen passte, die ich gedreht habe. Woher kam Ihr Interesse an der Bibliothek und an Institutionen generell? Ich versuche eine Filmreihe über das moderne Leben in den USA zu drehen, wie es sich angesichts verschiedener Institutionen manifestiert, die es auf der ganzen Welt gibt. Das heißt, es geht vor allem auch darum, was eine US-amerikanische Bücherei speziell macht? Genau. Es hat mich enorm überrascht, wie groß das Kultur- und Fortbildungsangebot ist, das von dieser Bücherei ausgeht. Es gibt Kurse über Theorien zur Sklaverei im 19. Jahrhundert, über Videospiel-Programmierung für Kinder, über Roboter-Bau, über Buchhaltung und Steuerrecht, Sprachkurse. Tausende Kurse, die Menschen besuchen können, die sich keine teuren Schulen leisten können. Damit repräsentiert die New York Public Library für mich die USA von ihrer besten Seite. Man sieht jedenfalls ein ganz anderes Amerika als das von Präsident Trump. Was aus dem Blickwinkel eines Europäers sehr spannend ist. Der Film repräsentiert das Beste an den USA, Trump das Schlechteste. Aber das Amerika, das er repräsentiert, ist keine neue Entwicklung. Schon in meiner Jugend gab es starke rechtsextreme Gruppen – der KuKluxKlan war noch viel aktiver als heute. Ich glaube nicht, dass die Wahl von Donald Trump darauf zurückzuführen ist, dass die US-Amerikaner grundsätzlich rechter geworden sind. Ich glaube, sie ist eine direkte Folge des Versagens unseres Bildungssystems. Inwiefern? Die meisten, die Trump gewählt haben, haben gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen gewählt. Sie haben sich ablenken und einwickeln lassen mit Schlagwortthemen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe oder das Transgenderverbot beim Militär. Trumps Wirtschaftspolitik dient aber nur einem einzigen Zweck: die Reichen noch reicher zu machen. Und Millionen Menschen sind so uninformiert, dass sie das nicht verstehen. Sind Bücher für Sie ein aussterbendes Medium? Nein, absolut nicht. Und es ist auch nichts in meinem Film, was das suggerieren würde. Gehen Sie selbst eigentlich gern ins Kino, oder schauen Sie sich Filme lieber zuhause an? Nicht wirklich, ehrlich gesagt. Nachdem ich zehn Stunden täglich vor einem Bildschirm gesessen bin, um mein Material zu sichten und zu schneiden, habe ich dann keine Lust mehr. In den vergangenen Jahrzehnten gab es ja enorme technische Fortschritte. Machen neue Entwicklungen Ihren Job grundsätzlich einfacher? Eigentlich nicht. Die Kamera ist immer noch mehr oder weniger gleich groß. Die Tonaufnahmegeräte sind leichter geworden. Aber es wird sehr viel Blödsinn geredet über neue Technologien – so viel hat sich da für mich als Filmemacher nicht verändert. Und der Dreh selbst ist zwar billiger, aber die Postproduktion ungleich teurer als früher, weil das Color Grading sehr viel kostet. Aber man kann damit auch sehr viel machen. Würden Sie irgendwann gern einen Film über Trump machen? Wenn Sie es schaffen, mir eine Drehgenehmigung zu besorgen, dann fliege ich mit dem nächsten Flieger nach Washington und fange damit an. Wer von den 15 US-Präsidenten, deren Regierung Sie selbst bewusst miterlebt haben, war Ihrer Meinung nach der Beste? Das ist einfach: Roosevelt und Obama. Und Harry S. Truman war auch ein guter Präsident. Lustigerweise waren die alle Demokraten.