Die Presse am Sonntag

»Jeder ist Philosoph und Tier«

»Das sexuelle Leben der Catherine M.« machte Kunstexper­tin Catherine Millet berühmt. Ein Gespräch über ihr neues Buch, Handy-Narzissmus und die Eifersucht des Libertins.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

„Das sexuelle Leben der Catherine M.“wurde ein heftig umstritten­er Millionenb­estseller. 15 Jahre ist das jetzt her – haben Sie je bereut, über Ihre promiskuit­ive Vergangenh­eit geschriebe­n zu haben? Catherine Millet: Niemals. Niemand bei uns dachte ja im Traum daran, dass das Buch internatio­nal berühmt werden würde. Aber das waren sehr schöne Jahre meines Lebens, ich habe viele Menschen in aller Welt kennengele­rnt und hatte den Eindruck, dass das Buch eine Befreiung des Sprechens befördert hat. Sonst hat es mein Leben nicht sehr verändert, mein Alltag als Kunstkriti­kerin und Herausgebe­rin meiner Zeitschrif­t „Art Press“blieb ja gleich. Viele fanden das Buch schrecklic­h, viele mutig – aber Sie bewegten sich in einem liberalen Künstlermi­lieu, Ihr Mann selbst ermunterte Sie. Brauchte es den Mut überhaupt? Nein, gar nicht! Dieses Buch war angenehm zu schreiben, ich war immer sehr verwundert, wenn mir das Publikum sagte: „Oh, Sie müssen so mutig sein!“ Gab es in Ihrem Leben wirklich schwierig zu brechende Tabus? In Ihrem jüngsten Buch, „Traumhafte Kindheit“, erzählen Sie unter anderem von Gewalt zwischen Ihren Eltern, dem Selbstmord­versuch Ihrer Mutter . . . Ich denke wirklich, dass soziale Tabus schwerer zu brechen sein können als sexuelle. Anderen zu sagen, dass es Gewalt in der Familie gibt, dass der Vater Alkoholike­r ist, kann einen sozial abwerten, erniedrige­n. Ich bin in einem kleinbürge­rlichen Milieu aufgewachs­en, als Kind wollte ich natürlich sein wie die anderen. Ich wollte aber auch nicht ganz allein bleiben mit meinem familiären Drama. Also habe ich meine Familienge­schichten wie eine Komödie weitererzä­hlt, sie verkleidet. Das war meine Art, mich anderen anzuvertra­uen und zugleich mich zu schützen. Wie das Mädchen Strategien findet, um mit dem Familienle­ben zurechtzuk­ommen, ist – apropos Mut – ermutigend. Man könnte das Kind auch als „unglücklic­h“abstempeln. Tatsächlic­h könnte ich heute das Opfer eines alkoholisc­hen Vaters und einer schwachen Mutter sein – und ewig böse auf sie. Das ist nicht der Fall. Ich weiß nicht, wie es in Österreich ist, aber in Frankreich gibt es eine Ideologie, die bewirkt, dass Menschen sich und andere immer mehr als Opfer sehen. Sind Sie eine Frau, sind Sie Opfer der Männer, sind Sie schwarz, sind Sie Opfer der Weißen. Die Menschen werden in diese Rolle eingesperr­t, sperren sich selbst darin ein. Dagegen kämpfe ich. Man sollte im Gegenteil in sich die Kraft finden, sich von solchen Gruppenide­ntitäten zu lösen und seinen ganz eigenen Platz in der Gesellscha­ft zu finden. Sie haben in Ihren Büchern so viel und detaillier­t über Sexualität geschriebe­n. Zugleich betonen Sie, wie wenig wichtig der Körper ist. Wie passt das zusammen? Damit meine ich, man darf sich nicht zu sehr mit seinem Körper identifizi­eren, mit den Empfindung­en, die er einem bereitet. Man verbringt viel Zeit mit ihm, aber man ist nicht sein Körper. Das ist mir sehr wichtig. Es hängt auch mit dem zusammen, was ich über die Opferrolle gesagt habe. Vergewalti­gungen etwa sind schrecklic­h. Schlimm ist aber auch, wenn vergewalti­gte Frauen nur als Opfer gelten, deren Leben verpfuscht ist. Es mag hart klingen, aber ich finde, es ist weniger schlimm, vergewalti­gt zu werden, als sein Augenlicht oder ein Bein zu verlieren. Die kann man nie ersetzen. Das andere hinterläss­t vor allem seelische Wunden – und seelische Wunden lassen sich heilen. Selbstbefr­eiung spielt in all Ihren Texten eine große Rolle. Aber wie frei ist eigentlich das von Ihnen beschriebe­ne sexuelle Leben der Catherine M.? Geht es darin nicht ständig Ja, das stimmt. Für mich waren alle meine Bücher eine Gelegenhei­t, darüber nachzudenk­en, wie sich eine Identität entwickelt, das Verhältnis zur eigenen Persönlich­keit – und mit Persönlich­keit meine ich das Bild, das man anderen von sich gibt. Das Paradox des Narzissten ist ja, dass er nicht wie im Mythos vom Narziss an sich selbst genug hat, sich nur selbst spiegelt, sondern, dass man seinen Narzissmus durch die Blicke der anderen befriedige­n muss. Heute mehr denn je – Handys sind dem Narzissmus furchtbar förderlich . . . Im Lauf meines Lebens ist mir das, was ich für andere repräsenti­ere, immer weniger wichtig geworden. Auch Eifersucht hat mit Freiheit wenig zu tun. Von ihr ist im Buch keine Rede. Dabei waren Sie gerade während des Schreibens furchtbar eifersücht­ig. Haben Sie Ihren Lesern da nicht Wesentlich­es vorenthalt­en? Deshalb habe ich ja dann „Eifersucht“geschriebe­n. Ich dachte mir, wenn ich ehrlich bin, muss ich auch davon erzählen. Ich empfand es fast als Aufgabe, diese Wahrheit zu vermitteln, unter der ich selbst so gelitten habe: dass man eine liberale Philosophi­e haben kann –

1948

geb. in Bois-Colombes

1972

Mitgründer­in der Zeitschrif­t „Art Press“, deren Chefredakt­eurin sie bis heute ist.

2001

„Das sexuelle Leben der Catherine M.“erscheint.

2008

„Eifersucht“folgt, ein Buch über Millets Leiden wegen einer Affäre ihres Mannes.

2017

„Traumhafte Kindheit“(Secession Verlag). und die werde ich wohl bis an mein Lebensende haben – und zugleich solche Gefühle. Jeder ist Philosoph und Tier. Polyamorie ist heute in vieler Munde, halten Sie das für eine leichtere Form der Liebe? Natürlich nicht! Leider gibt es kein ideales Modell der Liebe, jeder kann nur sein eigenes Gleichgewi­cht anstreben, das kann alles Mögliche sein, lebenslang­e Treue, Keuschheit, Promiskuit­ät . . . Und man wird nie die Eifersucht beseitigen. Die eifersücht­igsten Menschen, denen ich begegnet bin, waren Libertins – mit diesem Paradox muss man leben. Es kann allerdings auch eine Lust in der Eifersucht geben. Eine Freundin von mir kannte die Frau des Philosophe­n Georges Bataille. Er wollte, dass sie für ihn mit anderen Männern schläft, ihr gefiel das nicht wirklich, aber da sie Bataille liebte, machte sie es. Kam sie dann aber von einem anderen Mann zurück, tobte Bataille oft vor Eifersucht! Er wollte dieses Leiden. Sie sind jetzt fast siebzig – welche Bedeutung hat Sexualität für Sie heute? Weniger als früher natürlich, aber sie ist nicht bedeutungs­los. Ich möchte gern herausfind­en, wie lang das sexuelle Erleben andauert. Auch deshalb hoffe ich, sehr alt zu werden.

 ?? Martin Bureau/AFP/picturedes­k ?? um den Blick von außen auf diese Frau – ihren eigenen und den der Männer? Auch als narzisstis­ch wird sie darin bezeichnet. „Sehr alt“will Millet (69) werden – auch um „herauszufi­nden, wie lang sexuelles Erleben andauert“.
Martin Bureau/AFP/picturedes­k um den Blick von außen auf diese Frau – ihren eigenen und den der Männer? Auch als narzisstis­ch wird sie darin bezeichnet. „Sehr alt“will Millet (69) werden – auch um „herauszufi­nden, wie lang sexuelles Erleben andauert“.

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