Wie aus ein paar Landgendarmen die Cobra wurde
Vor 40 Jahren, am 9. November 1977, wurde der Wiener Textilfabrikant Walter Palmers von Linksextremisten entführt. Der »Herbst des Terrors« hatte nun auch Österreich erreicht – und führte mit zum Aufbau des heutigen Einsatzkommandos Cobra.
Es ist einer dieser dunklen, verregneten Novemberabende. Walter Palmers, damals Österreichs wichtigster Textilfabrikant, parkt nach einem langen Bürotag vor seiner Währinger Villa. Als er den VW Golf absperrt, wird er plötzlich von mehreren Vermummten gepackt und in ein bereitstehendes Auto gehievt. Als ihm nach 20 Minuten die schwarzlackierte Skibrille wieder abgenommen wird, findet sich Palmers in einem Zimmer wieder – darin ein Verschlag samt Campingliege und einem Kübel für die Notdurft. „Volksgefängnis“nennen es die Entführer. Tatsächlich handelt es sich um eine Wohnung in der Webgasse in Mariahilf. Fast 100 Stunden wird der 74-Jährige festgehalten.
Von Bundeskanzler Bruno Kreisky über die Polizei bis hin zu den Kommentatoren – alle glauben zunächst an einen spektakulären Kriminalfall. Ende der 1970er-Jahre werden auch in Westeuropa immer wieder Millionäre, Geschäftsleute und Erben verschleppt. Tatsächlich sind deutsche Terroristen am Werk. Bereits seit dem Frühjahr 1977 waren mehrere Angehörige der sogenannten Bewegung 2. Juni in Wien untergetaucht. Aus gutem Grund: In der BRD war ihnen das Pflaster zu heiß. Dort strebte der Linksterrorismus aufgrund der Anschläge der Roten Armee Fraktion (RAF) auf einen Höhepunkt zu.
Aber auch die Bewegung 2. Juni hatte ehrgeizige Pläne. Man wollte sich für lange Zeit finanziell absichern. Und zwar mit der „Entführung eines Kapitalbesitzers“. Dafür schien Wien gerade richtig. „Es ist eine Stadt für Agenten, Ganoven, für Spießbürger und ihre Politiker, gerade richtig für die Entführung eines Industriellen“, schrieb später die Anführerin des Unternehmens, Inge Viett. Drei österreichische „Sympathisanten“waren eingebunden: Die Studenten Thomas Gratt, Othmar Keplinger und Reinhard Pitsch. Letzterer hatte Viett und ihre Kollegin Juliane Plambeck durch Zufall Anfang Mai 1977 kennengelernt und mit seinen Freunden zusammengebracht. Gratt schloss sich der Bewegung 2. Juni bald an, während Pitsch und Keplinger Hilfsjobs übernahmen.
In einem Stadtheurigen suchte man anhand des Buchs „Die Reichen und die Superreichen in Österreich“das passende Opfer aus: Walter Palmers. Für ihn sprach, dass das Umfeld intakt war – die Familie würde zahlen. Und so war es auch. An der Polizei vorbei wurde am 14. November 1977 die Lösegeldübergabe durchgeführt.
In einer zynischen „Schnitzeljagd“lotsten die Kidnapper Palmers Sohn Christian von einem Kaffeehaus zum nächsten. In der Konditorei Heiner erhielt er schließlich die letzte telefonische Anweisung. Nämlich in die Domgasse zu gehen, wo ein falsches Taxi auf ihn wartete. Sobald Christian Palmers zugestiegen war, wurde sein Rollkoffer mit den rund 31 Millionen Schilling Lösegeld gegen eine Doublette ausgetauscht. Der Fahrer von der Bewegung 2. Juni brachte den Palmers-Sohn anschließend ins Hilton, wo dieser um 23 Uhr den erlösenden Anruf erhielt: „Servus, ich bin hier in Hietzing.“Die Entführer hatten Walter Palmers beim Hotel Arabella abgesetzt.
Die Entführung war wie nach Drehbuch verlaufen. Erst bei der „Absetzbewegung“patzten die Terroristen: Am 23. November 1977 wurden Gratt und Keplinger in Chiasso an der schweizerisch-italienischen Grenze verhaftet. Der Ort war als Schmuggelhotspot bekannt, weshalb die Polizei genau hinsah. Gratt kam einem Beamten so ver- dächtig vor, dass er ihn mit aufs Revier nahm. Dort versuchte er noch, eine Waffe zu ziehen, und wurde überwältigt. Keplinger wurde kurze Zeit später festgenommen. Ihre deutschen Genossen waren längst über alle Berge – und mit ihnen das Lösegeld. Nur rund drei Millionen Schilling wurden sichergestellt. Der Rest soll Gruppen wie die RAF noch bis in die 1980er-Jahre finanziert haben. Die „Zeche“bezahlten Gratt, Keplinger und Pitsch. Sie wurden 1978 zu mehrjährigen Strafen verurteilt. Gratt allein verbrachte 13 Jahre hinter Gittern. 2006 beging er Selbstmord, Keplinger starb vier Jahre später an Krebs. Von den ehemaligen Angehörigen der Bewegung 2. Juni hatte sich nie jemand verantworten müssen.
Doch zurück ins Jahr 1977: Die Palmers-Entführung löste einen Schock aus. Es schien, als wäre der Linksterrorismus auf die „Insel der Seligen“übergesprungen. Ende Dezember wurde auch noch die Ehefrau des Unternehmers Leopold Böhm von zwei Kriminellen verschleppt. So wie die Familie Palmers agierte auch Böhm auf eigene Faust und bezahlte 21 Mio. Schilling Lösegeld. Allerdings gelang es, die Kidnapper bald zu fassen. Die beiden Fälle mit prominenten Opfern wirbelten aber so viel Staub auf, dass man nicht zur Tagesordnung übergehen konnte.
Die Palmers-Entführung löste einen Schock auf der »Insel der Seligen« aus.