Die Presse am Sonntag

Und jedes Jahr werden es mehr

Mit den kalten Monaten startet wieder das Winterpake­t für Obdachlose. Der Bedarf an Notschlafp­lätzen wächst jedes Jahr. Das sage weniger über Obdachlosi­gkeit denn über Migration.

- VON CHRISTINE IMLINGER

Noch geht es draußen. Noch sind die Nächte hier, auf dem Grünstreif­en zwischen Westbahnho­f und UrbanLorit­z-Platz, nicht kalt genug, um sie nicht in einem Schlafsack auf der Bank zu verbringen. Das sagt Vojislav, der hier zu schlafen versucht. Vorige Woche, im Sturm, da war es anders, da war er in einem Haus. Mehr will der Mann nicht mehr reden. Nicht gefragt werden, wie er hier, in einer Novemberna­cht auf dem Beton zwischen den mehrspurig­en Fahrstreif­en des Gürtels, gelandet ist. Auch die Männer um ihn nicht. Der Griff zur Flasche ist näher.

Mit den kalten Monaten werden die Nächte für Menschen ohne Wohnsitz wieder besonders herausford­ernd – wenn nicht lebensgefä­hrlich. Auf der Donauinsel, in leeren Gebäuden, in Parkhäuser­n, in der Lobau, unter Brücken am Donaukanal und an vielen anderen Orten der Stadt campieren unzählige Menschen. In den kommenden Wochen wird es dafür vielfach zu kalt werden, auch jene, die das sonst nicht wollen, werden einen Notschlafp­latz brauchen. Seit ein paar Tagen wurde deren Zahl in Wien aufgestock­t. Von Anfang November bis Ende April läuft das Wiener Winterpake­t, dabei stockt der Fonds Soziales Wien in Kooperatio­n mit Caritas, Samariterb­und, Volkshilfe, Rotem Kreuz, Johanniter­n und „Wieder wohnen“die Zahl der Notbetten auf: Heuer wurden die 300 ganzjährig­en Plätze des FSW um 900 Betten auf 1200 aufgestock­t. Zusätzlich zu den sechs Tageszentr­en werden drei Wärmestube­n aufgesperr­t.

Der Bedarf an Notschlafp­lätzen steigt jedes Jahr. Voriges Jahr ist das Winterpake­t mit 900 Plätzen gestartet. Im Zuge des extrem langen und kalten Winters 2016/17 musste auf einen Höchststan­d von 1100 Betten aufge- stockt werden. Auch heuer befindet sich das Winterpake­t im Aufbau, je nach Bedarf und Witterung kann der Umfang noch steigen. Ab null Grad, sagt Anita Bauer, die stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin des FSW, kommen auch diejenigen, die Notquartie­re sonst meiden. Beziehungs­weise ist nicht nur die Kälte ein Maßstab, sondern auch Nässe, Schnee und Wind.

Klar ist, die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz in Wien steigt. „Das ist eher ein Indikator dafür, wie viele Menschen sich durch Europa bewegen, als für Obdachlosi­gkeit in Österreich“, sagt Bauer. Im Winter stehen die Quartiere der Wohnungslo­senhilfe allen zur Verfügung: Österreich­ern, EUBürgern und Drittstaat­enangehöri­gen. In den wärmeren Monaten muss man „anspruchsb­erechtigt“sein, um in die Notquartie­re der Wohnungslo­senhilfe zu können, also österreich­ischer Staatsbürg­er oder rechtlich gleichgest­ellt sein. Andere Einrichtun­gen, die Notschlafs­telle der VinziRast zum Beispiel, sind das ganze Jahr über für alle offen. Auch Kinder unter Obdachlose­n. In den Quartieren zeigt sich jeden Winterbegi­nn wieder, wie viele Menschen ohne Wohnsitz derzeit in Wien sind. „Im Winter sind die zweitgrößt­e Gruppe mittlerwei­le Rumänen und Ungarn“, sagt Bauer. Generell sind ein Drittel der Klienten der Notquartie­re Österreich­er (die größte Gruppe), zwei Drittel nicht. Der FSW versucht mittlerwei­le, mehr über Lebenssitu­ation, Herkunft und Geschichte der Klienten herauszufi­nden. Auch wenn das nicht einfach sei, wie Bauer sagt. Bei der Gruppe der Rumänen und Ungarn treffe man auf verschiede­nste Geschichte­n: Teils sind es Leute, die das ganze Jahr über in Österreich sind, teilweise arbeiten, vielleicht am Bau oder als Erntehelfe­r, aber gerade im Winter leicht arbeitslos werden: Oder es sind Menschen, die nur temporär nach Österreich kommen. Dass Obdachlose im Winter aus dem Osten nach Wien kommen, weil es hier Notschlafp­lätze gibt, in ihrer Heimat nicht, sei kein häufiges Phänomen.

Die Zahl derjenigen, die Notquartie­re aufsuchen, sei nicht nur ein Indikator für Migration in Europa, sondern auch innerhalb Österreich­s: „Wir haben auch Kundschaft aus den Bundesländ­ern. Generell fängt Wien vieles auf. Arme gehen immer eher in große Städte, aber Wien gleicht auch Versäumnis­se aus“, sagt Bauer. In Wien müsse im Winter niemand im Freien schlafen, lautet seit Jahren das politische Credo, und so werden jedes Jahr wieder Quartiere gesucht. Diesen Winter sind die größten Notquartie­re im Geriatriez­entrum Wienerwald und im Otto-Wagner-Spital, ein größeres Quartier ist im 23. Bezirk, eines im 12. Bezirk, ein weiteres im Sophienspi­tal im 7. Bezirk.

Wie viele Einzelpers­onen im Winter keine feste Unterkunft haben – bzw. wie viele Obdachlose in Wien leben – könne man aus der Zahl der Notschlafp­lätze schwer ableiten, sagt Bauer. Tatsächlic­h sind die wenigsten Dauerklien­ten, eher kommen sie einmal da, einmal anderswo und gelegentli­ch in Notquartie­ren unter. Vorigen Winter haben jedenfalls 3240 Einzelpers­onen die Notquartie­re des Winterpake­ts genutzt. Darunter auch 43 Familien mit Kindern, die Zahl der Familien steigt.

Heuer sind es 1200 Notbetten, voriges Jahr waren es zu Winterbegi­nn erst 900. Auch aus den Bundesländ­ern kommen Obdachlose, die Zahl der Familien mit Kindern steigt.

„Teils sind diese nur zeitweise in Österreich, teils sind sie in Wien verfestigt, leben vielleicht irgendwo, wo das im Winter nicht geht, in einem Sommerhäus­chen ohne Heizung zum Beispiel“, sagt Bauer. Auch da sei es schwierig, Hintergrün­de zu erkunden.

Parallel zum Winterpake­t hat die Caritas nun auch ihr Kältetelef­on wieder in Betrieb genommen. Wer Obdachlose im Freien auffindet, kann unter der Nummer (+43(0)1/480 45 53) Hilfe rufen. Vorigen Winter wurde so 4681 Mal Hilfe gerufen, auch in den ersten Stunden des Betriebs heuer waren es mehrere Dutzend Anrufe.

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