Die Presse am Sonntag

Leben in der Vorhölle der Verdammnis

Es gilt, ©ie Lyrikerin Christine Lavant neu zu ent©ecken. Vor Żllem Żuch Żls ProsŻŻutor­in. Eine hochsensiã­le Dichterin Żus ©er Enge ©er K´rntner Berge. In ihren ãerühren©en Büchern erz´hlt sie von Armut un© Ausgrenzun­g, Lei© un© Lieãe.

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Schlaflos in St. Stefan. Christine Lavant sitzt oft nächtelang auf dem Diwan in einer Ecke ihres Wohnzimmer­s. Im Türkensitz, Tee trinkend. Sie raucht und isst Kekse. Schlaflosi­gkeit, Schmerz und Depression­en bleiben ein Leben lang Begleiter der Kärntner Dichterin, die man als tieftrauri­ge Frau mit großen, dunklen Augen und dem ewigen Kopftuch kennt.

Im Juli 1915 wird Christine Thonhauser geboren. Sechs Wochen zuvor hat das bis dahin neutrale Italien Österreich-Ungarn den Krieg erklärt. Als neuntes Kind eines Bergarbeit­ers und einer Flickschne­iderin wächst Christine in ärmsten Verhältnis­sen im Lavanttal, Michael Horowitz in Groß-Edling bei St. Stefan, auf. Ihr Pseudonym Lavant, den sie ab 1948 verwendet, ist der Name des Flusses, der sich durch ihr Heimattal schlängelt.

Schon als kleines Kind wird Christine von Skrofulose, einer für damals typischen, langwierig­en Arme-LeuteKrank­heit, gepeinigt. Das Leiden schädigt später auch Gehör und Sehvermöge­n nachhaltig. Geld für eine Berufsausb­ildung ist nicht vorhanden. Christine ist physisch und psychisch zu instabil, um einer regelmäßig­en Beschäftig­ung nachzugehe­n. Sie bleibt bei der Mutter zu Hause und erlernt von ihr das Stricken, liest viel, Rainer Maria Rilke wird zu ihrem Idol, bald beginnt Christine Lavant selbst wie besessen zu schreiben. Verbrennun­gen. Bereits den Besuch der Hauptschul­e muss Christine aus gesundheit­lichen Gründen abbrechen. Im Alter von zwölf Jahren wird Tuberkulos­e diagnostiz­iert, die Ärzte geben dem schwächlic­hen Kind nur mehr ein Jahr zu leben. Die Mutter hat kein Geld für den Zug, um Christine im Spital zu besuchen, die Krankensch­western kümmern sich kaum um sie. Ihre Wunden werden mit den neu entdeckten Röntgenstr­ahlen hoch dosiert verbrannt – Geburt. Neuntes Kin© eines K´rntner BergmŻnns. Lyrik. Veröffentl­ichung ©er ersten Ge©ichte. Arbeitsrau­sch. In 15 JŻhren schreiãt sie 1800 Ge©ichte. Buch. Das Kind – erste Veröffentl­ichung. Tod. NŻch einem HerzinfŻrk­t. lebensrett­end, aber schmerzhaf­t nachwirken­d. Zurück bleiben Verbrennun­gen am Kopf, an Hals und Brust, deshalb trägt Christine Lavant fast immer ein Kopftuch. Die Verletzung­en und die Folgen der Wundbehand­lung sollen verhüllt werden.

Die psychische­n Verwundung­en sind nicht zu verbergen. Das zwanzigjäh­rige Mädchen versucht in einer ihrer wiederkehr­enden Depression­sphasen, ihrem Leben mit Schlafpulv­ern ein Ende zu setzen, und begibt sich freiwillig in die „Landes-Irrenansta­lt“. Die beklemmend­en Berichte mit schmerzend­er und selbstverl­etzender Genauigkei­t ihres sechswöchi­gen Aufenthalt­s, von denen man bis dahin nur aus Briefen wusste, werden 55 Jahre nach ihrer Entstehung gefunden und veröffentl­icht: Das Buch Aufzeichnu­ngen aus einem Irrenhaus schildert mit klaren, scharfen Bildern das Zusammenle­ben von Patienten und Personal, Besuchern und ihr selbst. Die Ich-Erzählerin erhofft sich in der Vorhölle der Verdammnis Heilung, die sie vermutlich nie erfährt.

Nicht nur für H. C. Artmann ist diese psychologi­sch präzise Studie ein Hauptwerk Lavants. Artmann schätzt diese originäre, große Dichterin und korrespond­iert mit ihr. Zwischen 1961 und 1965, während der abenteuerl­ustige Poet in Schweden lebt, schickt er immer wieder Ansichtska­rten aus Malmö und Stockholm nach St. Stefan. Wie besessen schreibt Lavant hier. In sich und ihrer Welt zurückgezo­gen. In einer Mansarden-Dichterkla­use. Nur einmal fährt sie in die Welt hinaus, verlässt ihr enges Kärntner Tal: Auf Einladung der St.-Georgs-Bruderscha­ft reist sie erster Klasse mit dem Orientexpr­ess nach Istanbul, wo sie drei glückliche Wochen verbringt.

Im Kärntner Dorf gilt sie schon immer als Außenseite­rin, beim Greißler, in der Kirche, am Stammtisch mokiert man sich über die Verrückte. Vermutlich ist Christine durch das Euthanasie­Programm der Nationalso­zialisten gefährdet, vernichtet alle Manuskript­e und zieht sich in die Isolation zurück. Sie lebt vom Stricken. Sie ist, wie sie selbst schreibt, zu einer „völligen innerliche­n Stummheit verurteilt“.

Für einen hochsensib­len Menschen wie Christine gibt es ein Leben lang nichts Schlimmere­s, als das „SichDarste­llen-Müssen“in der Öffentlich­keit. Es ist auch „ein Krampf“, als die Außenseite­rin später zur Ehrenbürge­rin ihrer Gemeinde ernannt wird.

Christine Lavant ist keine naive Dichterin aus der Kärntner Provinz, die bei Kerzenlich­t mit Gott hadert. Ihre sprachlich­e Souveränit­ät fasziniert neben H. C. Artmann auch Thomas Bernhard, der mit Anerkennun­g für Kollegen äußerst verhalten umgeht. Er charakteri­siert Lavants Werk, die „sehr gescheit und durchtrieb­en“ist, als „das elementars­te Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauch­ten Menschen, als große Dichtung, die in der Welt nicht so wie sie es verdient bekannt ist.“

Mitte der 1950er-Jahre begegnen Bernhard und Lavant einander erstmals. Später immer wieder auf dem Gutshof des Musikers Lampersber­ger in Maria Saal, dem sommerlich­en Treffpunkt der Avantgarde. Hier ermutigt Lavant den jungen Bernhard, an seinen Gedichten weiterzuar­beiten. 1987, Christine Lavant lebt seit 14 Jahren nicht mehr, gibt er bei Suhrkamp Gedichte der bewunderte­n Kollegin heraus.

Schon zu Lebzeiten wird sie geehrt. Unter anderem zweimal mit dem Trakl-Preis. Ihre drei Gedichtbän­de Die Bettlersch­ale, Spindel im Mond und Der Pfauenschr­ei gelten als bedeutende Literatur. Lavants Werk umfasst rund 1800 Gedichte – ihre Kinder – und 1200 Seiten Prosa. Die Texte entstehen in fast rauschhaft­en Arbeitspha­sen in weniger als 15 Jahren. Rund die Hälfte da-

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von bleibt zu ihren Lebzeiten unveröffen­tlicht – und erscheint seit zwei Jahren erstmals im Verlag Wallstein.

Neben dem Leid ist die Liebe ein durchgehen­des Thema in Lavants Lyrik: erträumte, zurückgewi­esene, schmerzhaf­t erlebte Liebe. Kurz nach dem Tod ihrer Eltern heiratet sie „aus Mitleid“den um 36 Jahre älteren Landschaft­smaler Habernig. Mit dem Lohn für Strickarbe­iten bringt sie den mittellose­n Künstler und sich selbst durch. Die Begegnung mit dem Maler Werner Berg ufert in eine aussichtsl­ose Liebe aus.

Tipp: Die Christine Lavant Gesellscha­ft, die mit Unterstütz­ung des Unternehme­rs Hans Schmid das Gesamtwerk der Lyrikerin aufbereite­t, verleiht heute um 11 Uhr im ORF-Radiokultu­rhaus dem Schriftste­ller Bodo Hell den zweiten, mit 15.000 Euro dotierten „Christine Lavant Preis“. Gerti Drassl liest aus Lavant-Texten.

Die bisher erschienen­en Serienteil­e unter: diepresse.com/Dichter&Denker

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