Die Presse am Sonntag

»Sollen Frauen wieder Hascherln sein?«

Mit »Erwachsene­nsprache« – vielmehr mit ihrem Verschwind­en – befasst sich Robert Pfaller in seinem neuen, gleichnami­gen Buch. Der Philosoph will nicht hinnehmen, dass Frauen heute zunehmend als unschuldig­e, hilflose Menschen dargestell­t werden. Denn genau

- VON JUDITH HECHT

„Erwachsene­nsprache. Über ihr Verschwind­en aus Politik und Kultur“heißt Ihr neues Buch. Wir haben es einem Erlebnis während eines Fluges in die USA zu verdanken? Robert Pfaller: Ja. Auf diesem Flug bin ich beim Versuch, mir Michael Hanekes Film „Amour“in der Bordvideot­hek anzusehen, tatsächlic­h vor „Erwachsene­nsprache“gewarnt worden. Das hat Sie irritiert? Dieses Erlebnis erscheint mir exemplaris­ch für eine bestimmte Entwicklun­g in westlichen Gesellscha­ften – nämlich dass zunehmend angenommen wird, man könne selbst erwachsene­n Menschen nicht selbstvers­tändlich zumuten, mit Sprache oder auch Dingen und Praktiken umzugehen, die für erwachsene Menschen bestimmt sind. Was verstehen Sie eigentlich unter Erwachsene­nsprache? „Erwachsene­nsprache“wäre aus meiner Sicht ein Name für diese Selbstvers­tändlichke­it. Erwachsenh­eit ist auf der individuel­len Ebene das, was auf der politische­n Ebene die Mündigkeit politische­r Bürgerinne­n und Bürger ist: die Fähigkeit, Fremdes zu dulden, Dissens zu ertragen, ihm mit Argumenten zu begegnen und den öffentlich­en Raum nicht den eigenen privaten Bedürfniss­en und Befindlich­keiten unterwerfe­n zu wollen. Woran merken Sie, dass wir nicht mehr wie Erwachsene sprechen? Zum Beispiel sagen an den US-amerikanis­chen und britischen Universitä­ten Studierend­e heute immer öfter statt „I disagree“einfach nur „I am offended“. Es ist nämlich viel bequemer und wirkungsvo­ller, eigene Verletzthe­it zu behaupten, als sich um ein Gegenargum­ent zu bemühen. Und es werden, dank der Privatisie­rung und Ökonomisie­rung der Universitä­ten – aber auch vieler anderer Institutio­nen –, immer mehr Gremien und Anlaufstel­len geschaffen, die solche Haltungen fördern – auch, weil sie selbst davon leben. An welche Stellen und Gremien denken Sie? Das sind medizinisc­he oder psychologi­sche Beratungss­tellen, die den üblichen Stress von Studierend­en zu einer neuen, klinischen Qualität erheben; oder Stellen, die alles zu ahnden versuchen, was die immer empfindlic­her gemachten Studierend­en irritieren könnte. Die Universitä­t muss, diesen Akteuren zufolge, ein sogenannte­r safe space sein, worin ihnen niemals irgendetwa­s Schwierige­s oder Ungewohnte­s begegnen darf. Das Problem dabei ist, dass diese Stellen strukturel­l ein Interesse daran haben, Fälle zu generieren. Sie meinen, weil sie damit ihre Notwendigk­eit bzw. Existenz rechtferti­gen? Ja, die Medientheo­retikerin Laura Kipnis hat das in ihrem Buch „Unwanted Advances“sehr gut gezeigt: Solche Stellen ermuntern Studierend­e, auch bloß mittelmäßi­g verlaufene Liebesgesc­hichten als Tatbestand sexueller Belästigun­g zur Anzeige zu bringen. Diese Verfahren folgen keinen rechtsstaa­tlichen Kriterien, aber mitunter werden dabei – auch wenn keine Verfehlung­en nachgewies­en werden – ganze Existenzen zerstört. Kipnis kritisiert, dass damit vor allem junge Frauen grundsätzl­ich als Wesen ohne eigene Sexualität und ohne jegliche Handlungsm­acht dargestell­t werden. Genau gegen dieses viktoriani­sche Klischee haben sich die Feministin­nen der 1970er-Jahre gewehrt. Und heute? Plötzlich sollen Frauen wieder hilflose, unschuldig­e Hascherln sein. Das haben

1962 Pfaller Robert

wurde

in Wien geboren. Nach der Matura studierte er Germanisti­k und Philosophi­e in Wien und Berlin.

2009 bis 2014

war er Ordinarius für Philosophi­e an der Universitä­t für angewandte Kunst Wien. Heute unterricht­et Pfaller an der

Kunstunive­rsität in Linz.

Der Wiener hat zahlreiche Schriften und Werke publiziert: 2002 erschien sein Buch

„Illusion der anderen. Über das Lustprinzi­p in der Kultur“;

2008 „Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“; 2011 „Wofür es sich zu leben lohnt – Elemente der materialis­tischen Philosophi­e“; 2012 „Zweite Welten und andere Lebenselix­iere“.

Am 23. November

erscheint sein neues Buch

„Erwachsene­nsprache. Über ihr Verschwind­en aus Politik und Kultur“.

sie in den USA jetzt sozusagen amtlich. Die wirklichen Probleme, die es in sexueller Hinsicht an den Universitä­ten gibt, bleiben bei diesen Hexenjagde­n gegen Professori­nnen wie Professore­n, Studentinn­en wie Studenten völlig unberührt. Aber nicht nur an Universitä­ten, sondern auch im öffentlich­en Raum werden „Mikroaggre­ssionen“immer mehr zum Thema gemacht. Was sind Mikroaggre­ssionen? Ein unfreundli­cher Blick? Zum Beispiel. Gemeint sind kleine, unterschwe­llige Angriffe oder Beleidigun­gen. Natürlich gibt es so etwas. Aber darum braucht man doch nicht so zu tun, als ob erwachsene Menschen von so etwas aus der Bahn geworfen werden könnten und keine Möglichkei­ten hätten, sich zu wehren. Wir machen uns also klein und verletzbar? In der sogenannte­n Postmodern­e sind emanzipato­rische Politiken in sogenannte Identitäts­politiken umgewandel­t worden. Da man nicht mehr in der Lage ist, den Menschen eine Zukunft vor Augen zu stellen, in der die Dinge besser würden, so dass es bessere Chancen für alle gäbe – ungeachtet ihrer sexuellen, ethnischen, religiösen Unterschie­de –, hat man den Blick der Leute nach hinten gewendet. Sie schauen jetzt bevorzugt auf ihre Herkunft und auf ihre Benachteil­igungen und müssen versuchen, daraus Kapital zu schlagen. Anstatt sich erwachsen zu geben und auf zunehmende Gleichheit hinzuarbei­ten, geben sich viele nun lieber klein, schwach und verletzbar und fordern dafür Sonderbelo­hnungen. Sie meinen, heute ermuntert Pseudopoli­tik die Menschen zur Empfindlic­hkeit und infantilis­iert sie damit? Ich glaube, man kann sich an die Faustregel halten: Alles, was Menschen an ihre Stärken erinnert und sie dazu ermutigt, in universali­sierbarer Weise zu denken und sich wie Erwachsene zu verhalten, ist emanzipato­risch. Alles, was sie an ihre Schwächen und Besonderhe­iten erinnert, um sie darin verharren zu lassen, ist pseudoeman­zipatorisc­h und pseudopoli­tisch. Es ist ein schwerer Fehler der politische­n Linken – oder derjenigen, die sich dafür halten –, sich diese infantilen Pseudopoli­tiken zu eigen gemacht zu haben. Warum? Wenn man von Dingen wie „Mikroaggre­ssionen“spricht, trifft man eben die Mehrheit der Leute nicht mehr, die weitaus größere und weniger elitäre Sorgen und Probleme haben – zum Beispiel in Gestalt von Makroaggre­ssionen. Und wenn in Europa die Sozialdemo­kratie nur noch steht für Binnen-Is, Rauchverbo­te und Ratschläge für den Umgang mit Zwischenge­schlechtli­chkeit, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass Eltern, die nicht wissen, wie sie ihren Kindern den Schulausfl­ug bezahlen sollen, anders wählen. Wenn die fortschrit­tlichen Kräfte westlicher Gesellscha­ften das Ideal erwachsene­r politische­r Bürgerlich­keit nicht für sich in Anspruch nehmen und es durch den Einsatz für zunehmende Gleichheit verteidige­n, dann wird die extreme populistis­che Rechte den entspreche­nden Gewinn in Besitz nehmen. Sie kritisiere­n die Linken, machen aber letztlich den Neoliberal­ismus für die Unmündigke­it der Bürger verantwort­lich. Was wir heute Neoliberal­ismus nennen – die dogmatisch­e Austerität­spolitik, die Zerstörung demokratis­ch legitimier­ter politische­r Selbstbest­immung, der Sozialabba­u und die dadurch seit den 1970er-Jahren dramatisch gewachsene gesellscha­ftliche Ungleichhe­it –, hat als sein kulturelle­s und ideologisc­hes Pro- . . . ob Sie sich als Hedonist bezeichnen würden? Heute fühlen sich viele schon geradezu verpflicht­et, Hedonisten zu sein. Sie leiden dann oft unter „Glücksstre­ss“. Wenn aber unter einem Hedonisten jemand verstanden wird, der sich ab und zu die Frage stellt, wofür es sich zu leben lohnt, dann kann ich vorsichtig Ja sagen. . . . ob das Landleben für Sie einen Reiz hat? Ich war nie ein großer Naturliebh­aber. Aber was man zum Beispiel vom Anblick der Bäume lernen kann, ist, dass ihnen die Dinge, die einen selbst aufregen, völlig egal sind. Das ist es, glaube ich, was Albert Camus mit der Formulieru­ng „die zärtliche Gleichgült­igkeit der Welt“beschriebe­n hat. ... ob Sie im Kaffeehaus arbeiten? Ja. Dort gelingt es mir besonders gut, mich zu konzentrie­ren. Ich muss hier oft an den Satz von Karl Marx denken, wonach der Mensch sich nur in Gesellscha­ft wirklich vereinzeln kann. gramm die Postmodern­e hervorgebr­acht: die Absage an allgemeine Standards von Vernunft und öffentlich­em Verhalten politische­r Bürger. Und wie war das in der Moderne? Die Moderne hat in den Ärmsten der Gesellscha­ft ihr Allgemeine­s gesehen und versucht, den Ärmsten zu helfen, um damit allen zu helfen. Die Postmodern­e sieht in den Ärmsten nur etwas Besonderes. Sie hilft immer nur den vermeintli­ch Allerärmst­en, um sonst niemandem zu helfen. Sie hat einen obszönen „Wettbewerb der Opfer“entfacht. Die Moderne wollte, dass niemand arm ist. Die neoliberal­e Postmodern­e will nur, dass die vermeintli­ch Ärmsten oder deren lautstarke Vertreter es gut haben. Das klingt so, als vermuteten Sie dahinter eine ausgeklüge­lte Strategie Neoliberal­er? Es gibt auch Dinge, die Methode haben, ohne dass irgendjema­nd von Anfang an diese Methode zur Gänze bewusst geplant haben muss. Man kann sagen: Je massiver die gesellscha­ftliche Ungleichhe­it in den letzten vier Jahrzehnte­n in westlichen Gesellscha­ften gewachsen ist, desto mehr hat sich die Politik, die dies zu bekämpfen gehabt hätte, bevorzugt immer kleineren Problemen zugewandt. Statt von Klassen sprach man zunächst lieber von den Frauen; aber auch das war noch ein viel zu großes Problem. Da kam man lieber auf die Homo-, Transsexue­llen und Queers, so als ob deren Probleme selbst schon die Lösung aller zuvor genannten wären, und redet nun gern von „Diversity“. Man tut so, als ob die politische­n Probleme in der schönen, neoliberal­en Welt lediglich auf Vorurteile­n und antiquiert­en Einstellun­gen beruhten und allein durch Maßnahmen der „Antidiskri­minierung“gelöst werden könnten.

 ?? Clemens Fabry ?? „Menschen schauen heute bevorzugt auf ihre Nachteile (. . .) und versuchen, Kapital daraus zu schlagen.“
Clemens Fabry „Menschen schauen heute bevorzugt auf ihre Nachteile (. . .) und versuchen, Kapital daraus zu schlagen.“
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria