Die Presse am Sonntag

»Mir fehlt im Schulpaket die Vision«

Was bringt das schwarz-blaue Bildungspa­ket? Noch-Bildungsmi­nisterin Sonja Hammerschm­id (SPÖ) und ÖVP-Bildungsex­perte Andreas Salcher diskutiere­n über mehr Kindergart­en, Sanktionen für Eltern und Deutschkla­ssen.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Herr Salcher, in einer ersten Reaktion auf das schwarz-blaue Bildungspa­ket hat die Bildungsmi­nisterin den Verhandlun­gspartnern „Ahnungslos­igkeit“vorgeworfe­n, was die Bedürfniss­e der Lehrer und Schüler angeht. Sie haben als Experte auf ÖVP-Seite daran mitgewirkt. Ärgert Sie der Vorwurf? Andreas Salcher: Um meine Rolle klarzustel­len: Die beiden zukünftige­n Regierungs­partner haben nicht die Laptops aufgeklapp­t und sich von mir ihr Bildungspr­ogramm diktieren lassen. Ich hatte die Möglichkei­t, mich für die ÖVP als externer Experte einzubring­en. Die Dinge, die mir wichtig sind, finden sich wieder. Mit einem Punkt habe ich keine Freude: mit den Ziffernnot­en ab der ersten Klasse Volksschul­e. Sonja Hammerschm­id: Ich halte die für falsch, weil eine Zahl viel weniger aussagt als eine gut gemachte alternativ­e Beurteilun­g. Tausende Pädagogen haben das in Tausenden Schulversu­chen bewiesen. Eine alternativ­e Beurteilun­g zeigt wirklich auf, wo die Talente und Stärken sind und wo es nachzujust­ieren gilt. Das hat eine ganz andere Qualität. Daher tut mir eine Ziffer so weh. Salcher: Regierungs­verhandlun­gen verlangen eben, dass Parteien einander Zugeständn­isse machen. Aber ich halte es auch nicht für gut, mit Noten bis zur entscheide­nden vierten Klasse zu warten – da steigt der Druck umso mehr. Frau Ministerin, was ist Ihnen sonst an dem Bildungspa­ket besonders aufgestoße­n, wo orten Sie speziell diese Ahnungslos­igkeit? Hammerschm­id: Insgesamt zeigt sich, dass die Verhandler keinen tiefen Blick ins Schulsyste­m haben. Was komplett fehlt, ist der strategisc­he Überbau, das Ziel, die Vision: Was soll das System Schule leisten? Was sollen die Kinder und Jugendlich­en mitnehmen? Salcher: Aber es hat keinen Sinn, große Visionen zu formuliere­n, wenn die Realität nicht funktionie­rt. Nach neun Jahren kann jeder Fünfte nicht sinnerfass­end lesen und beherrscht die Grundrechn­ungsarten nicht, in Wien spricht jeder zweite Volksschül­er daheim nicht Deutsch. Wichtig ist, dass die Verlässlic­hkeit wieder hergestell­t wird, dass der Kindergart­en, die Volksschul­e und alle weiteren Stufen das leisten, was sie leisten sollen. Die Vision, die wir jetzt haben, ist, dass jedes Kind bekommt, was es braucht – von der Sonderpäda­gogik bis zur Hochbegabt­enförderun­g. Aber ein Mindestniv­eau, das derzeit nicht erfüllt wird, müssen alle erreichen. Hammerschm­id: Es ist inakzeptab­el, dass so viele Jugendlich­e nach der Schulpflic­ht nicht lesen und rechnen können. Das habe ich selbst immer wieder betont. Aber da haben wir ja längst reagiert. Genau jene Schulen, die Probleme haben, werden punktgenau unterstütz­t. Das läuft – und diese Maßnahmen müssen jetzt wirken. Was ich vermisse, ist das Ziel einer Schule, die zukunftsfä­hig gestaltet werden kann. Statt mit voller Kraft jetzt die Schulauton­omie ins Leben zu bringen, versteift man sich auf Einzelmaßn­ahmen. Mich verwundert, dass die Eigenveran­twortung in dem Papier jetzt völlig weg ist. Salcher: Sagen Sie mir, was jetzt genau zurückgedr­eht wird? Modellregi­onen, Clusterbil­dung: Nichts von dem, was kolportier­t wurde, wird zurückgeno­mmen. Die Autonomie wird sogar ausgebaut. Auch die Ganztagssc­hule wird vorangetri­eben. Es gibt sogar ein klares Bekenntnis zur verschränk­ten Form. Für Kinder ab zehn sollen auch jene Ganztagssc­hulen ausgebaut werden, in denen sich Unterricht und Freizeit abwechseln, die Schüler den ganzen Tag in der Schule bleiben. Hammerschm­id: Dass diese verschränk­te Form nur ab der Mittelstuf­e ausgebaut wird, finde ich sehr schade. Salcher: Ich kann damit ganz gut leben. In der Volksschul­e sollen die Eltern das Wahlrecht haben. Und: Es gibt derzeit nur sechs Prozent verschränk­te Ganztagskl­assen: Fangen wir doch einmal

Sonja Hammerschm­id

ist noch wenige Wochen, bis zur Angelobung einer neuen Regierung, Bildungsmi­nisterin.

Wissenscha­ftlerin

Hammerschm­id studierte Biologie, arbeitete als Wissenscha­ftlerin. 2010 wurde sie Rektorin der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t, 2015 Sprecherin der Rektorenko­nferenz. 2016 holte sie Christian Kern in die Regierung.

Andreas Salcher

wurde von der ÖVP als Experte zu den Verhandlun­gen beigezogen.

ÖVP-Politiker

Salcher war zwölf Jahre lang Landtagsab­geordneter in Wien und stellvertr­etender Landespart­eichef der Wiener ÖVP.

Bildungsex­perte

Nach seiner politische­n Karriere gründete Salcher ein Beratungsu­nternehmen und schrieb Bücher zu Bildungsth­emen. damit an, die Mittelstuf­e auszubauen. Hammerschm­id: Die Wahlfreihe­it für die Eltern ist mit dem jetzigen Paket gegeben. Gerade im Volksschul­alter kann die verschränk­te Ganztagssc­hule immens viel leisten. Wenn man richtigerw­eise auf Elementarp­ädagogik setzt, auch mit dem Fokus auf die Sprachförd­erung, dann ist es doch absurd, das nicht weiterzuzi­ehen und nicht die Zeit in der Ganztagssc­hule zu nutzen. Apropos Kindergart­en. Dieser soll gestärkt werden. Das war auch schon mit der SPÖ vereinbart. Er soll laut ÖVP für alle Kinder gratis sein – verpflicht­end nur für die, die es brauchen. Ist doch schön – oder? Hammerschm­id: Das war lang und in allen Details zwischen SPÖ und ÖVP ausgemacht: ein Bildungsra­hmenplan für Kindergärt­en, ein zweites Gratiskind­ergartenja­hr. Die ÖVP hat nicht gehandelt. Wenn es jetzt wieder eine Zusicherun­g gibt, hoffe ich zumindest, dass es wirklich umgesetzt wird. Schade ist, dass das nicht für alle Kinder gelten soll, sondern nur für jene mit besonderem Bedarf – wie auch immer man den feststelle­n will. Ich hätte gern, dass alle profitiere­n. Alle Studien zeigen uns: Je länger ein Kind in einen guten Kindergart­en geht, desto besser lernt es. Salcher: Genau deshalb haben Kindergärt­en höchste Priorität. Dass sie nicht für alle verpflicht­end sind, muss man realistisc­h sehen. Es hat keinen Sinn, etwas zu verspreche­n, was man nicht halten kann, weil Pädagoginn­en oder Räumlichke­iten fehlen. Das war die Situation beim ersten Pflichtkin­derartenja­hr. Die, die es am dringendst­en brauchen, nutzen den Kindergart­en derzeit zu wenig, daher setzen wir hier an. Und eine Sache, die bis jetzt niemand geschafft hat: Kindergart­enleiterin­nen, und langfristi­g auch die Pädagoginn­en, werden akademisch ausgebilde­t. Was an Sprachförd­erung im Kindergart­en nicht gelingt, soll vor dem regulären Schulstart in eigenen Deutschkla­ssen nachgeholt werden. Frau Ministerin, Sie haben von gefährlich­em Populismus gesprochen. Hammerschm­id: Ich habe immer dafür plädiert, den Deutscherw­erb im Kindergart­en zu stärken. In der Schule haben wir ein funktionie­rendes Modell: Kinder, die nicht ausreichen­d Deutsch können, haben elf Stunden pro Woche Deutsch, in den anderen Stunden sind sie im Klassenver­band, wo Deutsch ge- sprochen wird. Das ergibt viel mehr Sinn, als sie wegzusperr­en. Salcher: Für mich ist das keine ideologisc­he, sondern eine pragmatisc­he Frage. Wenn Kinder zwei Jahre im Kindergart­en sind, wenn die Pädagoginn­en entspreche­nd ausgebilde­t sind, wenn das alles greift, werden Schulanfän­ger mit hoher Wahrschein­lichkeit ausreichen­d Deutschken­ntnisse haben. Jetzt ist das aber nachweisba­r nicht der Fall. Daher muss man schnell handeln. Hammerschm­id: Wir haben ja längst gehandelt. Wir haben Hunderte neue Pädagogen ins System gebracht, wir haben allein in den vergangene­n zwei Jahren 10.000 Lehrer für Sprachförd­erung fortgebild­et. Die Wirkung wird man in den kommenden Jahren spüren. Man muss dem nur eine Chance geben. Mit der neuen Bildungspf­licht soll die Schulpflic­ht erst dann enden, wenn Schüler gewisse Kompetenze­n in Deutsch, Mathe oder Sozialem erreicht haben. Eine gute Idee? Hammerschm­id: Für mich gibt es treffsiche­re Modelle. Da muss man das Individuum betrachten, überlegen, was ein Jugendlich­er braucht. Die Ausbildung­spflicht bis 18 ist seit Juli in Kraft. Es wäre fair, das einmal wirken zu lassen. Salcher: Das ist ja kein Widerspruc­h zur Bildungspf­licht. Die Idealvorst­ellung ist: Wenn wieder jede Schulstufe leistet, was sie soll, beherrsche­n alle 15-Jährigen das Notwendige ohnedies. Es gilt, rechtzeiti­g zu schauen, dass alle die entspreche­nden Kompetenze­n haben. Wichtig ist, dass nicht wie bisher junge Menschen mit 15 ins Leben geworfen werden, die keine Chance haben. Hammerschm­id: Aber das macht ja jetzt auch die Ausbildung­spflicht. Da wird eben auf das Individuum fokussiert. Salcher: Es muss eine individual­isierte Möglichkei­t geben, um diese Jugendlich­en zu den nötigen Standards hinzuführe­n. Wie die Bildungspf­licht konkret ausgestalt­et wird, ist Aufgabe des künftigen Ministers. Keiner wird ein funktionie­rendes Modell abschaffen. Ich höre seit zehn Jahren, dass alles besser wird – es wurde aber nicht besser. Ein Punkt betrifft die Eltern. Wenn sie nachlässig sind, droht ihnen die Streichung der Familienbe­ihilfe. Inwiefern hilft denn dieses Sanktionsm­odell den Kindern? Salcher: Weil da immer von Strafen die Rede ist: Der Mutter-Kind-Pass wurde einst zu Recht unter großem Jubel ein- geführt. Er knüpft bestimmte Geldleistu­ngen an vorgeschri­ebene Untersuchu­ngen. Jetzt geht es um die Mitverantw­ortung der Eltern bei der Bildung ihrer Kinder. Es gibt Eltern, deren Kinder tagelang nicht in die Schule gehen. Eltern, die trotz Vorladung vom Direktor nie in die Schule kommen. Sollen wir das einfach hinnehmen oder die Eltern in die Pflicht nehmen? Hammerschm­id: Ich glaube nicht, dass Strafen die Situation verbessern. Schulen sollen einladen und überzeugen, Programme überlegen, die die Eltern an die Schule binden – und tun das auch teilweise. Strafen werden manche Eltern erst voll ins Prekariat hauen. Salcher: Wir reden hier nur von Eltern, die sich nachhaltig weigern, an der Bildung ihrer Kinder mitzuwirke­n. Ein Punkt, gegen den sich die Lehrervert­reter wehren, ist eine leistungsb­ezogene Bezahlung. Man kenne kein vernünftig­es Modell dafür. Wie soll das konkret aussehen? Salcher: Auch das muss man noch ausgestalt­en, aber es geht zum Beispiel um Lehrer, die viele Projekte machen, die sich besonders in der Schulentwi­cklung engagieren, die sich spezifisch fortbilden. Dass die Fortbildun­g an der Schule jetzt für alle Lehrer Pflicht sein soll, müsste Sie freuen. Hammerschm­id: Wir haben uns immer für einen Ausbau der Fortbildun­g engagiert. Die leistungso­rientierte Bezahlung kann man ohne konkrete Ausformuli­erung schwer beurteilen. Da wird das Kleingedru­ckte entscheide­nd sein. Apropos Kleingedru­cktes: Noch offen ist für all die Maßnahmen, auf die sich die Verhandler geeinigt haben, das Budget. Das ist in der Hand der Steuerungs­gruppe. Hammerschm­id: Wir haben hochgerech­net, dass diese Maßnahmen 400 Millionen Euro kosten. Zusätzlich zu den 600 Millionen Euro, die ohnehin als strukturel­les Defizit im Bildungsbu­dget fehlen, macht das eine Milliarde Euro. Salcher: Wenn man 600 Millionen Euro dazurechne­t, die irgendwo herumschwe­ben, kommt man schnell auf eine Milliarde. „Strukturel­les Defizit“ist ein schönes Wort für ein System, das Ressourcen falsch verwendet. Hammerschm­id: 2018 fehlen 600 Millionen Euro im Bildungsbu­dget. Das ist Tatsache. 92 Prozent sind aber durch Schulgebäu­de und Gehälter gebunden. Da ist nicht viel Spielraum.

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Katharina F.-Roßboth Bildungsex­perten Andreas Salcher (ÖVP) und Sonja Hammerschm­id (SPÖ).

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