»Selber schuld sagt sich so leicht«
Das Vinzidorf in Graz ist seit 1993 ein Ort, an dem alkoholkranke Obdachlose Zuflucht finden – Bedarf an einem warmen Platz gibt es nicht nur in der kalten Jahreszeit. Nun arbeitet Vinzi-Pfarrer Wolfgang Pucher an einer Wien-Niederlassung.
Er habe alles, was er braucht, sagt Helmut Nager. Mehr noch, derzeit. „Jetzt hab ich auch noch einen, der ist bei mir eingezogen. Obwohl er mich nicht um Erlaubnis gefragt hat“, sagt er mit gespielter Entrüstung und geht zur Holzstufe vor seinem Container. „Da unten hat er sich einquartiert“, sagt er und zeigt nach unten. Und dann erzählt er von dem Igel, der sich kürzlich unter seiner Tür für den Winterschlaf eingerichtet hat. Im Container darüber lebt Helmut Nager seit mittlerweile acht Jahren. Er ist einer der langjährigen Bewohner des kleinen Containerdorfes vis-a-`vis des LKH Graz.
Und auch wenn es so etwas wie einen klassischen Verlauf nicht gibt, seine Geschichte ähnelt der vieler anderer, die hier ankommen. Nager ist heute 62 Jahre alt, geboren wurde er in Leoben. Als er fünf ist, stirbt sein Vater, die Mutter ist nicht da. „Wo die war, weiß ich bis heute nicht.“Er ist einmal bei den Großeltern, wird von der Fürsorge mitgenommen, lebt zeitweise bei einem Onkel. Später folgt eine Lehre als Mechaniker und Autospengler. Helmut Nager wird jung Vater, doch die Beziehung scheitert, die Verhältnisse bleiben instabil. Irgendwann geht er nach Deutschland, wird Fernfahrer, trifft Frauen, mit denen es zu Problemen kommt – und zudem bekommt er nach und nach ein massives Problem mit Alkohol. »Geholfen hat ihm keiner.« Heute ist Helmut Nager einer der Bewohner des Vinzidorfes in Graz, einer Einrichtung für suchtkranke Obdachlose. Denn der Grazer Armenpfarrer Wolfgang Pucher hat bekanntlich schon vor 25 Jahren gesehen, dass es für diese Männer, die ohne Alkohol gar nicht auskommen und bei denen auch keine Therapien gegriffen haben, ansonsten kaum Versorgung gibt.
„Man sagt immer so schnell: Der säuft, der ist selber schuld“, sagt Pucher, und erzählt von einem Begräbnis eines Bewohners, das erst vor Kurzem stattgefunden hat. Ein 54-Jähriger war es, der am jahrzehntelangen Alkoholmissbrauch zugrunde gegangen ist. Beim Begräbnis waren viele aus der Familie, seine Schwestern haben Pucher die Geschichte des Mannes erzählt. „Der Vater war Alkoholiker, er hat die Kinder nach Strich und Faden verprügelt. Er ist als Bub immer wieder weggerannt, hat sich im Wald versteckt, ist zu Verwandten oder zur Polizei – und ist trotzdem immer wieder zum Vater zurückgebracht worden. Geholfen hat ihm keiner. Mit 15 hat er angefangen zu trinken, dann eine Familie gegründet“, erzählt Pucher. „Das ist natürlich schiefgegangen. Und da sagt einer dann: Warum säufst du so viel? Das ist leicht gesagt.“
Für Männer mit solchen Geschichten gibt es in Graz heute 33 Plätze im Containerdorf, dazu kommt die Krankenstube Vinzimed mit sechs Wohnund Schlafplätzen, ein eigener Friedhofsteil für (mittlerweile schon 70) verstorbene Bewohner und das Vinzidorf-Hospiz, das die Elisabethinen im April 2017 eröffnet haben – als Ort, an dem die Bewohner in ihren letzten Tagen in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, damit sie nicht irgendwo allein in einem Spital sterben müssen.
In Wien bauen die Vinziwerke derzeit am ersten Wiener Vinzidorf in Hetzendorf. 15 Jahre lang haben Pucher und seine Mitstreiter darum gekämpft, auch in Wien ein Dorf eröffnen zu können. In einem Jahr, zum Start der kalten Jahreszeit 2018, soll das Dorf mit 24 dauerhaften Plätzen fertig sein.
Derzeit laufen die Bauarbeiten, und Pfarrer Pucher sucht nach wie vor Spender, vor allem Firmenspender, die Baumaterial, Heizkörper zum Beispiel, oder später die Ausstattung der Wohnräume bereitstellen können. Und in spätestens einem Jahr braucht das Vinzi-Team dann auch dringend Ehrenamtliche in Wien. „Dann wird das sicher eine der menschengerechtesten Formen der Unterbringung“, sagt Pucher. Immerhin gebe es einen Privatbereich, niemandem wird etwas vorgeschrieben, man kann kommen und gehen und auch Alkohol trinken.
Puchers Ziel bzw. das seines Teams, das die Einrichtungen heute leitet, ist dabei in Wien dasselbe: Es gehe darum, den Menschen ein Zuhause zu geben. „Wir nehmen nicht jeden. Wir haben ja nur diejenigen, die sonst überhaupt niemand will. Leute, bei denen alles probiert wurde. Bei einigen haben wir versucht, sie in die Selbstständigkeit zu bringen, in eine eigene Wohnung, aber meistens ist das gescheitert. Hier ist das wie in einer Familie, jeder kann leben, wie er mag, und jeder wird mitgetragen.“Der Bedarf sei seit Jahren gleich, bei Österreichern zumindest. Die Zahl der obdachlosen Armutsmigranten steige, auch beobachte man bei den Obdachlosen vermehrt psychische Krankheiten. Die Nachfrage nach Quartieren sei im Sommer wie im Winter gleich. „Wenn es kalt wird, fällt es den Leuten halt wieder auf, wenn jemand draußen lebt. Aber es ist nicht in erster Linie Wärme, die fehlt. Sich wärmen kann man bald wo, aber die Verwahrlosung ist das Problem, wenn einer niemanden hat“, sagt Pucher, „und auch keine Heimat“. »Alles, was ich brauche.« Helmut Nager hat jetzt ein bescheidenes Daheim gefunden. „Ich hab alles, was ich brauch, ich bin jetzt schon Großvater, sogar Urgroßvater. Hier geht es uns gut. Aber egal, wo man ist, es ist überall dasselbe: Wenn man sich mit den Leuten versteht, wird man akzeptiert und es geht einem gut.“
Armenpfarrer Wolfgang Pucher nimmt seit 25 Jahren die auf, die sonst keiner will. 15 Jahre haben die Vinziwerke gekämpft, um auch in Wien einen Standort zu eröffnen.