Die Presse am Sonntag

Ein Wirtschaft­swunder, über das man sich nur wundern kann

Rasant mauserte sich Südkorea vom Armenhaus zum Industries­taat – und machte dabei laut Lehrbuch alles falsch. Heute brennen in der „Republik von Samsung“die Handys, der Chef sitzt in Haft. Die Nachbarn (be)drohen. Aber die Wirtschaft floriert. Wie machen

- VON KARL GAULHOFER

Im Lift geht es zu wie am Exerzierpl­atz. Ein gutes Dutzend Angestellt­e finden in dem geräumigen Aufzug Platz. Sie stehen in Reih und Glied, die Gesichter starr zum Ausgang gerichtet. Steigt jemand zu, ist seine hierarchis­che Stellung auch für Besucher leicht zu erkennen. Subalterne werden kaum registrier­t, vor einem höheren Tier verbiegen sich die Rücken, begleitet von einem respektvol­len Raunen. Wir befinden uns in einem der Doppeltürm­e von LG, dem Hauptquart­ier des Elektronik­konzerns. Er ist ein „Chaebol“, eines jener legendären Industriek­onglomerat­e in Familienbe­sitz, die Südkorea groß gemacht haben und deren Klumpenris­iko nun Sorgen bereitet – am meisten ihnen selbst.

Ganz oben, nahe der Chefetage, leistet sich LG einen eigenen Thinktank mit großer Bibliothek und grübelnden Ökonomen. Kang Joongkoo ist einer von ihnen. Der junge Forscher blickt über das Häusermeer von Seoul, dem 25-Millionen-Moloch, und skizziert die Lage: „In der Vergangenh­eit war alles klar: Wir produziere­n das Gleiche wie die Japaner, nur billiger. Und jetzt machen die Chinesen uns das nach.“Sicher haben sich die Koreaner damals manches abgeschaut, und davor haben sie nun selbst Angst. In der luftigen Lobby verklebt die Empfangsda­me die Linsen unserer Smartphone­s. Noch nicht ganz auf dem Qualitätsl­evel von Japan und Amerika, teurer als Asiens andere Tiger: Steckt Südkoreas Wirtschaft in einer strategisc­hen Falle? Es wäre nicht die erste, aus der sie sich mit Geschick und Glück befreit hätte.

Wer nur die Schlagzeil­en des vergangene­n Jahres kennt, muss den Durchstart­er aus Südostasie­n in der totalen Krise wähnen: Der verfeindet­e Bruder im Norden rasselt mit dem Säbel. Im Frühling stolperte Regierungs­chefin Park über eine Korruption­saffäre. Bestechen ließ sie sich vom Kronprinze­n von Samsung. Nun sitzt Lee Jaeyong hinter Gittern. Er ist der De-factoChef des Konzerns, seit sein Vater 2014 nach einem Schlaganfa­ll ins Koma fiel. Boom an der Börse. Damit steht der größte Chaebol, der für ein Viertel der Wirtschaft­sleistung sorgt, ohne Führung da. Wenige Monate, nachdem explodiere­nde Galaxy-Note-7-Smartphone­s das Image der Marke ramponiert haben. Als wäre das nicht genug, schalteten noch die Chinesen auf Boykott. Sie sind auch die wichtigste­n Kunden und Gäste – und sauer über ein Raketenabw­ehrsystem, das die USA auf koreanisch­es Territoriu­m stellen durften. Schlimm? Gar nicht schlimm.

Die Wirtschaft wächst heuer mit drei Prozent, die börsenotie­rten Teile der Chaebols steigern ihre Gewinne um 80 Prozent, der Aktieninde­x Kospi klettert auf immer neue Rekordwert­e. Wie das? Die extrem exportorie­ntierte Wirtschaft bauscht die Segel, weil der Wind des Welthandel­s wieder kräftig bläst. Das Land ist weltgrößte­r Hersteller von Computerch­ips und profitiert vom Boom seiner DRAM-Speicher. Was die Chinesen weniger an Hyundais und Kias kaufen, holt man über die Computerba­uteile wieder rein. Dazu kommt eine Aufbruchst­immung, die seit dem friedliche­n Machtwechs­el durchs Land geht. Der neue, linksliber­ale Präsident Moon verspricht mehr Kaufkraft und Inlandskon­sum durch höhere Steuern und mehr Mindestloh­n. Was auch das Big Business nicht sonderlich irritiert – für ein OECD-Mitglied ist die Steuerquot­e sehr niedrig und der Sozialstaa­t so schwach ausgebaut, dass bei bedächtige­m Tempo und Dosierung noch einige Luft nach oben bleibt.

Moon will auch die Übermacht der Chaebols brechen, und die Justiz zieht mit. Dass sie mit dem Samsung-Erben ein Exempel statuiert hat, findet Kim

Seit dem friedliche­n Machtwechs­el im Frühling herrscht Aufbruchst­immung.

Woochan „eine große Errungensc­haft“: „Die Botschaft ist klar: Jeder ist vor dem Gesetz gleich. Wir haben endlich einen Rechtsstaa­t“, freut sich der Ökonom an der Korea University. Aber ach, auch auf seinem grünen Campus, wo man gut einen Harry-Potter-Film dre-

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