»Politische Unsicherheit ist kein Problem«
Dass die Märkte das Scheitern der deutschen Regierungsverhandlungen und das Brexit-Votum gut verdaut haben, ist laut Martin Lück, Chef-Investment-Stratege beim US-Fonds Blackrock, nicht überraschend. Eine Überhitzung sieht er nicht.
In der vergangenen Woche sind in der wichtigsten Volkswirtschaft Europas – in Deutschland – die Regierungsverhandlungen gescheitert. Die Märkte hat das weitgehend kalt gelassen. Hat die Politik keine Bedeutung mehr für die Wirtschaft? Martin Lück: Die Politik hat nach wie vor eine große Bedeutung. Politische Unsicherheit ist aber kein Problem mehr, solang das allgemeine Umfeld stabil bleibt. Es gibt natürlich politische Ereignisse, die das Potenzial haben, dieses allgemeine Umfeld negativ zu verändern. Beispielsweise Entscheidungen, die zu einer Rückkehr der Eurokrise führen könnten. Das hätte massive Auswirkungen auf die Märkte. Das Scheitern der deutschen Sondierungsgespräche wird jedoch den grundsätzlich positiven Ausblick nicht ändern. Anders könnte das beim Brexit sein. Aber auch der sorgte nur kurz für negative Reaktionen. Die Kapitalmärkte haben gerade beim Brexit gelernt, dass die tatsächlichen Folgen erst mittel- bis langfristig zu spüren sind. Viele haben ja gemeint, man müsse nun sofort raus aus britischen Aktien. Dann hat man aber gelernt, dass diese im Anschluss an die Brexit-Entscheidung sogar noch sehr gut performt haben. Ähnlich war das dann auch bei Trump. Viele waren zwar gegen ihn als Person, aber aufgrund seiner politischen Ankündigungen gab es trotzdem Zuwächse. Die Finanzmärkte sind inzwischen sehr opportunistisch – man könnte auch sagen pragmatisch –, was es unmittelbar für das Portfolio bedeutet und was erst auf lange Sicht. Sollte es schlussendlich zu keiner Einigung zwischen EU und Briten über den Austritt kommen – also einem Hard-Brexit –, gäbe es schon Reaktionen? Ja. Einen Hard-Brexit würde man sicherlich als Schock spüren. Ich bin mir jedoch sicher, dass beide Seiten alles dafür tun werden, um das zu verhindern. Eine Einigung könnte dabei auch erst im letzten Moment passieren, wenn wirklich absehbar wird, dass es sonst zu diesem ungeregelten Austritt kommt. Manche Experten meinen, dass die Märkte deshalb nicht auf die politischen Ereignisse reagieren, weil die Geldschwemme der Zentralbanken derzeit alles überdeckt. Da ist sicher auch etwas dran. Denn es ist vollkommen klar, dass die jüngsten Ereignisse bei riskanteren Anlageklassen wie Aktien oder Hedgefonds Spuren hinterlassen würden, wenn es eine halbwegs vernünftig verzinste Alternative gäbe. Wer heute ein höheres Risiko aber vermeiden will, muss einen realen – und manchmal sogar nominalen – Verlust hinnehmen. Insofern sind Aktien beinahe alternativlos. Und das sieht man an den Märkten. Die Zentralbanken haben die Anleger also in eine Sackgasse getrieben. Sie haben es den Investoren sehr schwierig gemacht, auf eine Alternative zu Aktien auszuweichen. EZB-Chef Mario Draghi hat einen langsamen Ausstieg aus dem Anleihenkaufprogramm angekündigt. Wann wird die Zinswende in Europa kommen? Vermutlich nicht vor dem Jahr 2019. Die EZB hat ja jüngst angekündigt, dass die Zinsen noch lang über das Auslaufen des Anleihenkaufprogramms hinaus niedrig sein werden. Aus Deutschland und Holland gab es dafür viel Kritik. War die berechtigt? Ich glaube, die EZB tut gut daran, eine langsame Normalisierung der Geldpolitik ins Auge zu fassen. Wird man aus dieser Politik des billigen Geldes herauskommen, ohne einen Crash zu verursachen? Da stecken natürlich viele Risken drin. Vor allem ein zu starkes Einbremsen könnte zu einer negativen Überreaktion führen. Besonders dann, wenn wir parallel dazu eine konjunkturelle Abschwächung haben oder es neue politische Risken gibt. Aber umso besser ist es, dass sich die Zentralbanken so viel Zeit lassen, wie sie es derzeit tun. Ein Argument spricht aber auch dagegen, sich lang Zeit zu lassen. Und zwar der Konjunkturzyklus. Derzeit läuft es ja sehr gut. Aber was passiert, wenn sich das Wachstum abschwächt und die Zinsen immer noch im Keller sind? Müssen die Zentralbanken nicht jetzt ihr Magazin wieder auffüllen? Ja, das ist eine Gefahr, die durchaus besteht. Von der US-Notenbank Federal Reserve wird das aber auch gesehen. Das größte Argument für die bisherigen Zinsschritte in den USA war ja auch nicht die Inflation, die in Amerika unter 1,5 Prozent liegt, sondern der Aufbau von Munition für den nächsten Abschwung. Ich glaube aber nicht, dass wir uns derzeit in einem typischen zyklischen Muster befinden, sondern in einem langsamen Aufbau aus einer tiefen Krise heraus. Und die Geschichte zeigt, dass das wesentlich länger dauert als ein normaler konjunktureller Aufschwung. Es gibt noch keine Überhitzung der Wirtschaft. Man braucht sich um die Konjunktur derzeit also keine Sorgen machen. Die entscheidende Frage hierbei ist: Warum sind die Zinsen so niedrig, wie sie derzeit sind, und wie lang wird das bleiben? Hat es strukturelle Gründe, oder sind sie nur niedrig, weil ein Zentralbanker das so will und es morgen wieder ändern kann. Wäre Letzteres der Fall, dann wären die Bewertungsniveaus gefährlich hoch. Bei strukturell niedrigeren Zinsen haben wir aber auch strukturell niedrigere Diskontfaktoren für die künftigen Firmengewinne. Und das führt dazu, dass es einen höheren fairen Aktienwert gibt. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der vergangenen 30 Jahre gelten somit nicht als Maßstab, weil wir uns in einem gänzlich anderen Umfeld befinden. Aktien sind daher nicht teuer, obwohl sie teuer aussehen. Alle reden von einer Normalisierung des Zinsniveaus, doch bei welcher Höhe wäre es wieder normal? Das hängt sehr stark vom Wachstum und der Inflation ab. Es gibt viele Anzeichen, dass sich beides derzeit dauerhaft abflacht. Und wenn das so ist, dann gehört dazu auch ein niedrigerer Zins. Wo der genau liegt, ist schwierig zu sagen. Dann werfe ich eine Zahl in den Raum. Drei Prozent werden oft als neue Obergrenze genannt. Das ist ein plausibler und nachvollziehbarer Wert. Denn er würde sich aus einem Wachstum von einem Prozent und zwei Prozent Inflation oder aus Wachstum und Inflation von je 1,5 Prozent speisen. Martin Lück ist seit 2015 ChefInvestment-Stratege für Deutschland, Österreich und die Schweiz beim USFonds Blackrock. Zuvor arbeitete der Ökonom für UBS und die EZB. Blackrock wurde 1988 in New York gegründet und ist mit einem Volumen von fast sechs Billionen US-Dollar der größte private Vermögensverwalter der Welt. Der Fonds gilt dadurch auch als die weltgrößte Schattenbank.