Durch die Wand!
Unser Zentralorgan ist sorgsam abgeschottet gegenüber dem Blutkreislauf, durch die Blut-Hirn-Schranke. Medikamente müssen sie überwinden.
Im Herbst 2015 beobachtete ein Dutzend Ärzte in einem Nebenraum des Sunnybrook Hospital in Toronto auf Monitoren, was sich im Behandlungsraum bzw. im Kopf der dort Behandelten abspielte. Diese war eine Patientin mit einem Hirntumor, sie hatte gleich zwei Helme auf dem Kopf, einer war ein Ultraschallsender, der zweite erlaubte einen Blick in das Gehirn. Dann wurde in eine Vene ein Zellgift gespritzt – eines speziell für diesen Tumor –, und als es sich im Blut verteilt hatte, wurde noch etwas gespritzt, Luft in winzigen Bläschen. Wenn diese in Ultraschall geraten, kommen sie ins Oszillieren, das bringt die Wand des Blutgefäßes dazu, sich zu verengen und erweitern. Das soll einen Durchlass schaffen für das Zellgift, und zwar exakt da, wo der Tumor sitzt, dorthin war der Sender gerichtet.
Es gelang. „Es war sehr aufregend“, berichtete Radiologe Nathan McDannold dem Scientist (1. 11.): „Wir haben 15 Jahre mit Tierversuchen daran gearbeitet, und sind jetzt an dem Punkt, wo wir bereit sind, damit in die Klinik zu gehen.“Wozu der Aufwand? Ein Medikament aus dem Blut in das Gehirn zu bringen, ist gar nicht so einfach, das Zentralorgan ist extrem abgeschottet. Das zeigte sich erstmals 1885, als der deutsche Arzt Paul Ehrlich Versuchstieren einen Farbstoff spritzte und hinterher sah, dass alle Gewebe eingefärbt waren, außer dem Gehirn (und dem Rückenmark, also dem gesamten Zentralnervensystem). Er interpretierte das so, dass irgendetwas im Hirngewebe das Einfärben verhinderte. Das war ein Irrtum, ein Folgeexperiment eines seiner Assistenten zeigte es: Der spritzte den Farbstoff direkt in Gehirne, nun waren sie und nur sie eingefärbt.
Es musste etwas Trennendes geben. Das erhielt auch früh seinen Namen – Max Lewandowsky nannte es 1900 Bluthirnschranke, heute ist es international mit deutschen Namen vorbei, nun heißt es blood/brain-barrier (BBB) –, aber ob es wirklich existiert, blieb lange umstritten: Noch in den 50er-Jahren zeigten erste Aufnahmen mit einem Elektronenmikroskop so wenig, dass die Autoren die BBB zur „Illusion“erklärten. Das konnte sie aber nicht sein, das Gehirn braucht ein fein reguliertes chemisches Milieu, und es muss vor vielem geschützt werden, nicht nur vor Krankheitserregern, selbst Stoffwechselprodukte der Nahrung können für seine Zellen Gift sein. Und mit besseren Mikroskopen fand sich 1967 dann die Schranke.
Da war schon lange klar, dass sie Therapien von Krankheiten im Gehirn erschwert bis verunmöglicht, weil sie viele Moleküle nicht hineinlässt und viele von denen, die es doch schaffen, wieder hinauspumpt. Deshalb suchte man früh nach Wegen durch die Wand, man versuchte es etwa mit hyperosmotischen Lösungen, die Zellen der Gefäßwand schrumpfen lassen, oder man injizierte direkt in die Gehirne. Das war riskant und wenig zielgenau, aber für feinere Mittel musste man erst einmal exakt wissen, wie die Wand gebaut ist und wie sie funktioniert. Tight junction. Im Groben zeigte sich das bald: Zentral sind Proteine, die die Zellen der Gefäßwand so eng miteinander verbinden – „tight junction“–, dass zwischen ihnen keine Spalten bleiben. Zudem liegen hirnseitig an der Wand zwei Schichten von Zellen, Perizyten und Astrozyten. Das Zusammenspiel des Ganzen möchten Pharmakologen kennen, beim Erkunden behalfen sie sich zunächst mit Nierenzellen (von Hunden), deren Gefäßwände haben auch „tight junctions“. Aber keine Perizyten und Astrozyten. Deshalb ging man an den Nachbau der BBB, man versuchte es mit überschüssigen Gefäßen von Hirnoperationen von Menschen. Aber in Kultur verloren sie rasch ihre „tight junctions“.
Also strebte man den kompletten Neubau an, einer der Pioniere ist Peter Searson (Johns Hopkins University), er zieht die drei Zelltypen aus induzierten pluripotenten Stammzellen (ipS), dann kombiniert er sie. Er ist weit, sieht aber laut Scientist noch ein bis zwei Jahrzehnte Forschungsbedarf. Um so mehr überrascht, dass Sean Palecek (University of Wisconsin-Madison) eben publizierte, er habe, auch aus ipS, ein „robustes BBB-Modell“gefertigt, das „therapeutische Entwicklungen informieren“könne (Science Advances 8. 11.). – Therapeuten bzw. Pharmako- logen werden es gern hören, können aber nicht auf ein fertiges Modell warten, deshalb orientierten sie sich am Original: Die Natur kennt Wege durch die BBB, das Gehirn muss schließlich ver- und entsorgt werden. Also kommt vieles doch durch, manches aus eigener Kraft, Wasser etwa oder alles, was in Blut löslich ist und in Fett, es kann sich durch die Fettmembranen von Zellen hindurcharbeiten, das tun etwa Sauerstoff, Alkohol und die meisten Anästhetika. Bei manchen Medikamenten folgt man diesen Beispielen und schneidert sie etwa so fettliebend, dass sie den Weg schaffen.
Andere brauchen Fähren, etwa den Transferrin-Rezeptor. An den bindet Transferrin, ein Molekül, das Eisen herbeischafft. Das kann man nicht zum Transportieren nutzen – es brächte zu viel Eisen ins Gehirn –, aber man kann
Die Schranke schützt das Gehirn, sie lässt viele Moleküle aus dem Blut nicht hinein. Manche Moleküle schaffen es doch aus eigener Kraft, andere brauchen Transporteure.
Antikörper bauen, die an den Rezeptor binden, und an den Antikörper hängt man dann das Medikament. So bringen Forscher von Genentech etwas ins Gehirn, von dem sie hoffen, dass es Alzheimer-Plaques abbaut (Science Translational Medicine 5:261ra154). Bewährt hat sich Ähnliches mit dem Parkinson-Medikament L-Dopa, das findet mit einem Aminosäuretransporter ins Gehirn. Andere Pharmakologen setzen auf Viren, Adeno-assoziierte, die richten keinen Schaden an. Sie schaffen es problemlos durch die BBB, ebenso wie manche Immunzellen, Makrophagen, die strömen ins Gehirn, wenn dort eine Entzündung beginnt.
Es gibt noch andere Fähren, aber alle diese trojanischen Pferde setzen ihre Fracht überall im Gehirn ab. Bei manchen Leiden ist das erwünscht, Tumore hingegen müssen dort bekämpft werden, wo sie wuchern. Da ist die Methode aus Toronto führend, Ärzte in Harvard wollen sie verfeinern, sind aber noch an Versuchstieren (Pnas 8. 11.). Im Sunnybrook Hospital ist man schon an Menschen und versucht, auch Zellgifte gegen Tumore ins Gehirn zu bringen, die nicht dort entstanden sind, sondern selbst durch die BBB hingefunden haben: Metastasen.