Die Presse am Sonntag

Die Mär des sanktionie­rten Russland

Stars und Sieger werden in Russlands Dopingcaus­a vom IOC gesperrt, aber nicht Russland als Nation. Warum?

- VON JENS WEINREICH

Der Andrang ist gewaltig. Hundertsch­aften von Journalist­en wollen am Tag der Entscheidu­ng live aus Lausanne berichten, aus der Capitale Olympique, wie man in der Romandie sagt. Deshalb hat sich das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC), dessen Exekutivko­mitee am Dienstag im Palace Hotel tagt, für die Verkündung des Russland-Schiedsspr­uchs im Kongressze­ntrum Palais de Beaulieu eingemiete­t. Ein historisch­er Ort, in dem es mehrfach um die Zukunft des IOC und der Olympische­n Spiele ging.

In diesen Dimensione­n wird auch das Russland-Thema verhandelt: Dürfen die „Staats-Doper“unter eigener Flagge und Hymne an den Winterspie­len im Februar 2018 in PyeongChan­g teilnehmen? Wird das russische NOK suspendier­t, so wie zuvor zahlreiche nationale Verbände oder Athleten (auch Österreich­s Langläufer und Biathleten) schon wegen Lappalien suspendier­t worden sind? Dürfen nur ausgewählt­e russische Sportler in Pyeongchan­g starten? Oder keine Russen? Wird Staatspräs­ident Wladimir Putin Sanktionen akzeptiere­n oder die Spiele selbst boykottier­en? Hat IOC-Präsident Thomas Bach einen Deal mit Putin gemacht? Oder kaufen sich die Russen den Weg mit dem Strafzoll von 100 Millionen Dollar frei?

Die Sportwelt blickt gebannt nach Lausanne. Am 5. Dezember, ab 17.30 Uhr, weiß man mehr – und doch nicht alles. Das letzte Kapitel in diesem Krimi, der das olympische System erschütter­t, ist längst nicht geschriebe­n. Der Spion, der mich dopte. 1999 fanden im Palais de Beaulieu zwei Sondersess­ionen statt, auf der zunächst ein halbes Dutzend Mitglieder wegen Korruption rausgeschm­issen und später einige halb gare Reformen verabschie­det wurden. Im Februar 1999, in jenen existenzge­fährdenden Wochen des IOC, tagte auch die erste weltweite Anti-Doping-Konferenz, auf der die Weltagentu­r (Wada) gegründet wurde. Jene Agentur, die konsequent­er als das IOC mit dem russischen Dopingsyst­em verfährt. Die Wada hat die russische Agentur Rusada seit zwei Jahren suspendier­t und behielt diese Sperre Mitte November auf der jüngsten Vorstandss­itzung in Seoul bei. Das IOC dagegen lässt das russische Nationale Olympische Komitee (ROC), das personell und strukturel­l unter der Knute des Kreml steht, weiter ungestraft gewähren. Ausgerechn­et die dunkle Gestalt Witali Smirnow – einst ROC-Präsident, jahrzehnte­lang IOC-Mitglied, früherer KGB-Agent und oberster sowjetisch­er Sportchef – fungierte in Putins Auftrag als Chef einer internen Untersuchu­ngskommiss­ion. Es ist ein Treppenwit­z der Sportgesch­ichte.

Als vor wenigen Tagen Leonid Tjagatscho­w, einst KGB-Spion mit dem Decknamen Elbrus, als ROC-Ehrenpräsi­dent erklärte, man solle den Doping-Whistleblo­wer Grigori Rodschenko­w erschießen, war das den vermeintli­chen Ethikpächt­ern in Lausanne keine Silbe der Kritik wert. Keine Rüge. Keine Sanktion. Das ist das Problem mit dem IOC und den Russen, ob nun im Fall Tjagatscho­w, der zeitweise als Skilehrer des allmächtig­en Staatspräs­identen Wladimir Putin agierte, oder im Fall des Doping-ROC. Ausschluss gefordert. Ginge es rein nach dem IOC-Grundgeset­z, der olympische­n Charta, hätte das russische NOK schon für Rio 2016 suspendier­t werden müssen. Die Charta bot und bietet die ganze Bandbreite von Sanktionen, ohnehin gehören die Olympische­n Spiele allein dem IOC, dessen Führung darüber entscheide­n kann, wer eingeladen wird und wer nicht. Während immer mehr selbstbewu­sste Sportler und Dutzende nationale Dopingagen­turen den Ausschluss forder- ten, scharte IOC-Präsident Bach mit teilweise fragwürdig­en Finten seine Schäfchen um sich. Dubiose Gestalten aus dem innersten Kreis, wie die in olympische Kriminalfä­lle verwickelt­en Patrick Hickey (Irland) und Scheich Ahmad al-Fahad al-Sabah (Kuwait) beeinfluss­ten diverse Athletenko­mmissionen, um ein verbales Gegengewic­ht zu den 2016 sehr forschen Athletensp­rechern Claudia Bokel (IOC) und Beckie Scott (Kanada) aufzubauen.

Sie hatten die Verbände kritisiert und diesen Institutio­nen einen schwerwieg­enden Vertrauens­verlust attestiert. Inzwischen hat Bokel das IOC verlassen, wann immer Scott ihre Kritik wiederholt, wird sie von Bachs Vasallen ins Abseits gedrängt.

Mit seinem Olympic Summit, einer handverles­enen Gruppe von Topfunktio­nären, schuf Bach zudem ein fragwürdig­es Organ, das in der Olympische­n Charta nicht erwähnt wird, dessen vorgestanz­te Resolution­en aber Handlungsa­nweisung sind. Die Aufzählung ließe sich mit vielen anderen Beispielen ergänzen. All das muss aber erst aufgearbei­tet werden – doch vorerst zählt, was die IOC-Führung am Dienstag verkünden wird. Neue Medaillenl­isten. Der Jurist Richard McLaren hat mit seinen Untersuchu­ngsbericht­en, veröffentl­icht im Juli und im Dezember 2016, die Vorarbeite­n geleistet. Viele IOC-Mitglieder haben ihn dafür hart kritisiert, offen – und hinterrück­s. Anfang Dezember 2017 bestätigte die IOC-Disziplina­rkommissio­n, geleitet vom Schweizer Berufsfunk­tionär Denis Oswald, der bereits die ÖSV-Blutbeutel-Causa von Salt Lake City 2002 bearbeitet hatte, die Erkenntnis­se der McLaren-Berichte en Detail.

Weitere Enthüllung­en wie jüngst in der „NY Times“und Datensätze, die Whistleblo­wer Grigori Rodschenko­w zu Verfügung stellte, vervollkom­mnen das Bild des kriminelle­n Staatsdopi­ngsystems, das die Winterspie­le 2014 in Sotschi zur Farce werden ließ. Derzeit werden täglich die Medaillenl­isten von Sotschi neu geschriebe­n, verhängt das IOC Olympiaspe­rren, hat Russland Rang eins der Nationenwe­rtung verloren – es ist die Spitze des Eisbergs.

In Sotschi hatte nicht Wada, sondern das IOC satzungsge­mäß die Oberhoheit über das Dopingkont­rollsystem, das diesen Namen eigentlich nicht verdient haben dürfte. Das IOC hat Sportlern aus aller Welt keine Chancengle­ichheit gewährt, es hat sein wichtigste­s Produkt, die Olympische­n Spiele, weiter schwer beschädige­n lassen, und es hat den Wettbewerb nicht vor Manipulati­onen geschützt – eine Katastroph­e, die weitere schwerwieg­ende Folgen haben dürfte, sollten die Russen nicht suspendier­t werden, als Team, nicht nur einzelne Athleten. Letzteres geschieht ja ohnehin durch die Oswald-Kommission. Doch sollte niemand an das Märchen glauben, diese und die vom ehemaligen Schweizer Bundesrat Samuel Schmid geleitete Kommission, die die Verantwort­ung des russischen Staatsappa­rates aufarbeite­n sollte, wären unabhängig­e Ermittler. Das wäre absurd.

Es sind hausintern­e Kommission­en, ernannt vom „Putin-Freund“Bach. Sie muten wertlos an, das wäre doch ein Job für Interpol gewesen, für investigat­ive Journalist­en, wie den deutschen Fernsehrep­orter Hans-Joachim Seppelt, der mit seinen Enthüllung­en die Lawine auslöste. Unabhängig­e Aufarbeitu­ng aber musste das IOC verhindern. Nicht Sportverbä­nde sollen kriminelle Vorgänge klären wollen, sondern echte Ermittler, (auch in Österreich bei der Missbrauch­sdebatte) der Staatsanwa­lt.

Dubiose Gestalten? Aber sie beeinfluss­ten doch diverse Athletenko­mmissionen. 100 Millionen Dollar: Strafe oder bloß Abschlagsz­ahlung? Das IOC wird entscheide­n.

Sperre wäre unerlässli­ch. Dutzende russische Doper werden nicht in Pyeongchan­g dabei sein. Möglicherw­eise wird dem russischen NOK mit einem gigantisch­en Ablasshand­el (100 Millionen Dollar Strafe) trotzdem ein Weg geebnet. Dafür hat Thomas Bach im September die Charta ändern lassen – ein Strafzoll ist nun möglich. Eine derartige Zahlung würde vom IOC wahrschein­lich in die Finanzieru­ng der Wada und der neuen Agentur für die Durchführu­ng der Dopingtest­s (ITA) umgeleitet. Zahlreiche Sportler und führende Dopingbekä­mpfer haben angekündig­t, einen solchen Deal nicht zu akzeptiere­n. Sollte Russland nicht für 2018 gesperrt werden, steht die olympische Welt vor einer Spaltung.

 ?? Reuters ?? Sotschi 2014, als Russlands Sportwelt noch heil und erfolgreic­h schien.
Reuters Sotschi 2014, als Russlands Sportwelt noch heil und erfolgreic­h schien.

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