Die Milchstraße über Wattens
360 Grad Österreich. Die Kristallwelten in Tirol sind eine der meistbesuchten Touristenattraktionen. Jetzt hat man die Kunstinstallationen erweitert.
Man sieht sie schon von Weitem: eine glitzernde, flauschige Wolke, die hoch über einem Teich schwebt. Im dunklen Wasser glitzern und glänzen die Zehntausenden Kristalle, aus denen die Wolke gemacht ist. Steht man bei Dunkelheit direkt darunter und blickt nach oben, wird die Wolke zu einer Milchstraße voller Sterne.
Es ist zweifellos eine der schönsten Installationen der Kristallwelten in Wattens in Tirol und eine, die von all den anderen Attraktionen erschlagen zu werden droht. 1400 Quadratmeter ist die Wolke groß, die das französischamerikanische Künstlerduo Cao Perrot gestaltet hat. 40 Mitarbeiter haben in wochenlanger Handarbeit 800.000 Kristalle in die Wolke verwoben.
Es muss ein Heidengeld gekostet haben – wie viel genau, sagt man nicht. Man spricht bei der Firma Swarovski nicht gern über Geld. Nicht die Unternehmensgruppe, die nur Umsatzzahlen bekannt gibt – 3,4 Milliarden Euro waren es im abgelaufenen Geschäftsjahr –, und auch nicht die Kristallwelten, ein Kunst- und Erlebnismuseum, das man sich zum 100-Jahr-Firmenjubiläum geleistet hat.
Damals, 1995, erdachte sich Multitalent Andre´ Heller einen Riesen, der auszog, um die Welt mit all ihren Wundern und Schätzen zu erleben. Durch den Kopf dieses Riesen, aus dessen Mund ein beständiger Schwall von Wasser fließt, betritt man seither die Kristallwelten und erlebt die Wunderkammern – Zimmer in Anlehnung an das 16. Jahrhundert, als man in ihnen das gesamte Wissen der Zeit zu erfassen versuchte. Die Wunderkammern in Wattens wurden von Künstlern, Designern, Architekten entworfen und drehen sich um oder beinhalten die Kristalle, die Swarovski so erfolgreich verarbeitet.
Die Kristallwelten sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Weil ausgerechnet eine Kunstinstallation mittlerweile eine der größten Touristenattraktionen Österreichs ist – nur Schloss Schönbrunn hat noch mehr zahlende Besucher. 650.000 waren es in Wattens im vergangenen Jahr; seit der Eröffnung 1995 zählte man mehr als 13 Millionen Besucher. „Das wirkliche Wunder“, sagt selbst Andre´ Heller, „ist, dass das so viele Leute annehmen. Wir hätten uns schon gefreut, wenn 300.000 Besucher pro Jahr gekommen wären.“Weil es in Wattens steht, einem Ort – der Bürgermeister und der Tourismusobmann mögen es verzeihen –, der sonst keinen Besuch wert ist. Und weil ein Unternehmen auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten viel Geld für Kunst ausgibt. Neue Wunderkammern. Die jüngste Erweiterung der Kristallwelten dürfte auch nicht gerade billig gewesen sein. Es sind vier neu gestaltete Wunderkammern, die den Besucher staunen lassen. Etwa der „Palast der Liebe“, eine farbenfrohe Utopie, die der indische Designer Manish Aroroa geschaffen hat. Zentrum ist ein bunter Tempel in schillerndem Neonlicht, in dem prunkvolle, mit Kristallen verzierte Herzfeen nach oben und unten schweben. Eine ganze Wand aus kleinen Kristallen formuliert die Botschaft „Ready to love“, und über eine Treppe mit durchlaufenden Liebesbotschaften kommt man zu einer Tafel, auf der man selbst eine Botschaft für andere Besucher hinterlassen kann.
Das passt gut zur neuen Friedenskammer von Andre´ Heller, die einzige, in der keine Kristalle vorkommen. Der Besucher solle sich ganz auf die „kristallklare Botschaft“(Heller) konzentrieren, einen Moment innehalten, über das Leben nachdenken und darüber, wie jeder Einzelne einen Beitrag zum Frieden leisten könne. „Der Weltfrieden ist heute so gefährdet wie noch nie seit 1945“, meint der Wiener. Es sei „verrückt, wo überall Krieg herrscht“.
Im Gegensatz zu Kriegshelden lässt Heller Friedenshelden auftreten – wortwörtlich. Mahatma Gandhi, Albert Einstein, Martin Luther King und Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu´ sprechen als Hologramme zum Besucher. Die verblüffend echt wirkenden Projektionen hat der Multimediaspezialist Uwe Maass umgesetzt. Er hat bereits im Wahlkampf in Indien den damaligen Oppositionsführer Narendra Modi als Hologramm bei 3200 Veranstaltungen vor 110 Millionen Menschen „auftreten“lassen.
Mit schlichter Schönheit beeindruckt die Installation des mexikanischen Stararchitekten Fernando Romero der gemeinsam mit Norman Foster mit dem neuen internationalen Flughafen in Mexico City für Furore sorgt. „El Sol“nennt er die Kugel, die aus fast 3000 maßgefertigten Kristallen und im Kern aus LEDs besteht. Das Licht dieser LEDs wird durch die geschliffenen Kristalle so gebrochen, dass eine dynamische Oberfläche entsteht, die an jene der Sonne erinnert. Die Geometrie der Pyramiden der Azteken und Maya sei Inspiration für „El Sol“gewesen, erzählt Romero.
Die vierte Wunderkammer ist eine Erweiterung einer bestehenden vom israelischen Künstler Arik Levy. „Transparente Opazität“spielt mit verschiedenen Materialien und verschiedenen Formen – großen und kleinen Kristallkörpern, aus Holz, Metall, Kunststoff –, die Ergänzung „Emotional Formation“lässt unter anderem Kristalle aus Skulpturen wachsen, die langsam den Raum übernehmen.
Man wird sie wohl immer wieder nachwachsen lassen müssen, weil sie in Griffweite der Besucher angebracht sind. Aber es gehöre zu den Kristallwelten dazu, dass man bei manchen Installationen immer wieder nachbessert. Das sei eben „Kunst in Progress“, meint ein Mitarbeiter.
Ähnlich sieht es Markus LangesSwarovski, der seit seinem 28. Lebensjahr das Unternehmen führt und mit seiner Begeisterung für Kunst die jüngsten Erweiterungen initiiert hat: Die Kristallwelten seien kein klassisches Kunstmuseum, sondern eher ein eigenwilliger Ort, der nie wirklich fertig sei, meint der 43-Jährige.
»Das wirkliche Wunder ist, dass das so viele Leute annehmen.«
Spektakuläre Lichtshow. Im Winter ist es etwas ruhiger in Wattens, Menschenmassen gibt es nur zur Mittagszeit, wenn die 4800 Mitarbeiter der Swarovski-Werke zur Kantine in der Dorfmitte spazieren. Gerade jetzt lohnt sich ein Ausflug nach Tirol, weil nur die frühe Dunkelheit des Winters eine spektakuläre Lichtshow möglich macht. Zwischen 19. Jänner und 18. Februar wird der Garten der Kristallwelten täglich ab 17 Uhr zu einer Wunderkammer aus Licht und Klang – mit einer glitzernden Milchstraße aus 800.000 Sternen über dem Teich. Und weil es eine weitere Wunderkammer gibt: Man muss in Tirol weit fahren, um so gut zu essen wie im Restaurant Daniels Kristallwelten.