Wie »schön« darf Elend sein?
Für ihre Graphic Novel »Der Riss« haben sich Carlos Spottorno und Guillermo Abril an die Grenzen der Europäischen Union begeben – und an ihre eigenen.
Es ist Ihnen ja sicher nicht entgangen, dieses Top-Großereignis der vergangenen Woche. Nein, nicht das Annoncement der Heiratspläne von Prinz Harry und Meghan Markle ist gemeint. Auch nicht die jüngste Twitterei aus dem Weißen Haus. Da war doch dieser Gipfel im fernen Abidjan, wo Europäische und Afrikanische Union über Partnerschaftlichkeit berieten, nicht zuletzt im Zeichen jener Migrationsströme, die seit Jahr und Tag vom zweitgrößten Kontinent, Afrika, auf den zweitkleinsten, Europa, überschwappen, so sie sich nicht im Mittelmeer dazwischen – wie soll man sagen? – verlieren. Also: der Gipfel von Abidjan – wie war das doch gleich? Angela Merkel war da, Emmanuel Macron war da, Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und halt noch ein paar afrikanische Potentaten, von denen wir hierzulande weit überwiegend ohnehin nicht einmal den Namen kennen. Apropos: Wo liegt denn eigentlich dieses Abidjan? Ich muss schnell googeln . . .
Die Wahrheit ist: Wir haben keine Ahnung von denen „da unten“. Und sie interessieren uns auch nicht. Sofern die da unten nicht plötzlich vor unserer Tür stehen und Einlass begehren in unser europäisches Haus, das wir uns doch so hübsch eingerichtet haben. Die da unten, und in diesem Fall die da unten im Mittleren und Nahen Osten, interessierten uns auch damals nicht, als die meisten EU-Staaten ihre Unterstützung für die Flüchtlingslager im Libanon, in Jordanien, im Irak, in Ägypten reduzierten, mitten in der Hochzeit der Syrienkrise, einer der Hauptauslöser dessen, was wenig später als „Flüchtlingsflut“, ja als „Flüchtlingstsunami“an die selbstvergessenen europäischen Gestade schlug.
Carlos Spottorno und Guillermo Abril haben sich für die da unten interessiert. Und zwar nicht erst 2015, in jenem Jahr, das dereinst, und keineswegs nur was die humanitäre Agenda betrifft, die politische Entwicklung Europas in ein Davor und ein Danach teilen wird. Im Jänner 2014 brachen die beiden Journalisten, Spottorno Fotograf, Abril Reporter, im Auftrag des Magazins „El Pa´ıs Semanal“zu einer Reise auf, die sie in den folgenden drei Jahren an die Grenzen führte: an die Grenzen der Europäischen Union wie an ihre eigenen – und manchmal, was beides betrifft, ein Stück weit darüber hinaus.
Was sie dabei fanden, liegt seit Kurzem als Buch vor: „Der Riss“– eine in vielen Facetten schillernde Bestandsaufnahme europäischer Befindlichkeit, von den Rändern aus gesehen, gefügt aus Fotografie und Text, eine Bestandsaufnahme, die sie selbst „Graphic Novel“nennen, die sich freilich jeder Kategorisierung entzieht. Ausgangspunkt ihrer Reise: Melilla, die spanische Exklave auf afrikanischem Boden mit ihrem monumentalen Grenzzaun zu Marokko, als seien Donald Trumps waghalsigste Limesvisionen zwischen Marokko und der EU längst Wirklichkeit. Und dennoch: „Die Schwarzen sind in weniger als einer Minute drüber“, bekennt ein Oberst der Guardia Civil, breitschultrig vor Kreuz und Königskonterfei postiert. Nächste Station: das bulgarisch-griechisch-türkische Grenzdreieck, NatoDraht, Flüchtlingslager und Verhöre inklusive. Weiter nach Lampedusa, auf ein Boot der Grenzsicherungseinheit Frontex, dann an die ungarisch-serbische Grenze und, und, und, soweit, so mittlerweile wohlbekannt aus einer Vielzahl anderer Reportagen mit ähnlichen Impressionen des Leids, der Ver- zweiflung, enttäuschter Hoffnung einerseits, abwehrender, immer wieder auch helfender Hände andererseits.
Doch Spottorno und Abril geben sich nicht mit dem Kanon geläufiger Betroffenheitsberichterstattung zufrieden. Beharrlich stoßen sie in Bereiche europäisch-unionaler Grenzerfahrungen vor, die ebenso beharrlich jenseits unserer Wahrnehmung bleiben: die kilometerlangen Schlangen Einreisewilliger, die es von der Ukraine nach Polen drängt; Auffanglager nächst Weißrussland voll ehemaliger Sowjetrepublikaner, Georgier, Tadschiken, Usbeken; bis im äußersten Norden Finnlands, bei minus 30 Grad, eine afghanische Familie samt zwei Kamerunern vor ihnen steht, die eben erst, zusammengepfercht in einem Lada, ihr Ziel erreicht haben: das (vermeintlich?) rettende Europa.
„In einem gewöhnlichen Buch hätte man eine so komplexe Geschichte nicht wiedergeben können“, meint Spottorno. „Als ich darüber nachgedacht habe, wie man die Reportage so erzählen kann, dass Text und Foto gleichberechtigt sind, habe ich mich mit der Graphic Novel beschäftigt und erkannt, dass das die perfekte Sprache für uns ist. Dann musste ich nur noch die Fotos so bearbeiten, dass das Ergebnis nicht aussah wie ein Fotoroman.“Auch wenn in Wirklichkeit von dieser angestrebten Gleichberechtigung keine Rede sein kann (die Fotos und ihre Kombination auf den Seiten sind das unstreitig tragende Element): Der allzu platten Fotoroman-Ästhetik entgehen die beiden tatsächlich souverän, durch verfremdete Farben und grobe Körnung der Bilder. So souverän, dass man sich zugleich mit jener Frage konfrontiert sieht, die Ästhe-
Ausgangspunkt der Reise: Melilla, die spanische Exklave auf afrikanischem Boden. Wie viel Verfeinerung verträgt das Dokument, bis es sein Dokumentarisches verliert?
tisierung solcher Art immer aufwirft: Wie viel Verfeinerung verträgt das Dokument, bis es sein Dokumentarisches verliert? Ab wann wird Elend, wird Gewalt kraft formaler Kunstfertigkeit quasi zu schön, um wahr zu sein? Ein Konflikt, der letztgültig nie aufzulösen ist.
„An der Grenze der EU sagte uns ein Asylwerber, was Europa für ihn bedeute: den Unterschied zwischen einer gefährlichen und einer sicheren Welt“, erzählt Guillermo Abril am Ende. „Wenn du das hörst, ist es unmöglich, nicht zu spüren, dass die Union, mit all ihren Fehlern, eine der größten Errungenschaften der Menschheit ist. Und dass sie es wert ist, darum zu kämpfen, sie so gut wie möglich zu machen.“Die Reise dorthin mag weit sein; doch sie beginnt wie jede andere Reise: mit dem ersten Schritt.