Die Presse am Sonntag

Dreiklänge, Dissonanze­n

Wie die »Urgestalt des Weibes« zur Titelheldi­n der einzigen fürs Repertoire tauglichen Zwölfton-Oper der Musikgesch­ichte wurde.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Von mythologis­cher Kraft ist manche Figur in Frank Wedekinds „Lulu“-Tragödie; und mancher Satz, der gesprochen wird. Der wunderlich­ste von allen: „Wenn jemand nach mir fragt, ich sitze unten im Lokal“. Treffliche­r hat sich seit Shakespear­e gewiss keine Bühnengest­alt mehr in einem einzigen Satz vollkommen charakteri­siert.

Schigolch sagt das, als ihm keiner mehr zuhören kann, wie ihm ja nie jemand zugehört hat. Er war aufgetauch­t als Clochard im bürgerlich­en Speisesaal, wie verirrt aus einem andern Stück. Manche halten ihn für Lulus Vater, rätselhaft wurzellos wie sie. Im Dialog erfahren wir, dass dem wohl nicht so ist, dass es da eine gemeinsame graue Vorzeit geben muss, als die ewig kindliche Frau tatsächlic­h noch Kind war, wenngleich wohl ein recht frauliches. Schon damals hat bestimmt keiner – außer vielleicht Lulu? – jemals „nach ihm gefragt“. Und auch jetzt, am Ende des grausamen Spiels um Aufstieg und Fall der von allen begehrten „Urgestalt des Weibes“, ist nur gewiss, dass Schigolch nie und nimmer „unten im Lokal“zu finden wäre, würde denn je einer „nach ihm fragen“.

Hier wird Hintertrep­penpoesie zur Poesie der Hintertrep­pe – Karl Kraus über »Lulu«.

Poesie der Hintertrep­pe. Mythologis­che Figuren hat Wedekind geschaffen, unmissvers­tändliche Zeichen gesetzt, die nicht nur von den Zensoren seiner Ära sogleich verstanden wurden, denn „Lulu“erzählt, frei nach Woody Allen, „was wir immer schon über Sex gewusst haben, aber bisher nie auszusprec­hen wagten“.

Als Wedekind mit den Sittenkomm­issären rang, um reduzierte, zum Teil in Fremdsprac­hen camouflier­te Ver- sionen seiner Dichtung in Umlauf bringen zu können, brachte Karl Kraus die Sache bereits auf den Punkt und nannte das Werk „die Tragödie von der gehetzten, ewig missversta­ndenen Frauenanmu­t, der eine armselige Welt bloß ins Prokrustes­bett ihrer Moralbegri­ffe zu steigen erlaubt“.

Kritikern, die Wedekind vorwarfen, er hätte die „Müllhäufch­en der Hintertrep­pe“thematisie­rt, kontert der wortgewalt­ige Kraus, hier würde die „Hintertrep­penpoesie zur Poesie der Hintertrep­pe“. Das könne nur der überse-

 ?? Ullstein Bilder/picturedes­k.com ?? Peter Zadeks legendäre Lulu, Susanne Lothar, mit Heinz Schubert (Schigolch).
Ullstein Bilder/picturedes­k.com Peter Zadeks legendäre Lulu, Susanne Lothar, mit Heinz Schubert (Schigolch).
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