Die Presse am Sonntag

Hagen ist hier der einzige echte Kerl

»Hagen« heißt der Auftakt zu einer neuen Sicht auf Wagners »Ring des Nibelungen« im Theater an der Wien. Es fehlt ihm allerdings an zwingender Dramaturgi­e.

- VON WALTER WEIDRINGER

„Huren“schreibt das Söhnchen des Freiers einmal an die Wand – und kassiert prompt eine Ohrfeige von Floßhilde. Klar hat er recht. Die Rheintöcht­er sind lockende Freudenmäd­chen, und der kleine Hagen muss die in doppeltem Sinne große Sauerei mit anschauen, die sie mit seinem vermutlich alleinerzi­ehenden Papa Alberich anrichten. In Glitzerfum­mel, Netzstrümp­fen und Gummistief­eln tollt das Trio leichter Mädchen im Morast einer Sandkiste herum (Bühne: Henrik Ahr). Kinder kümmert kein klitschnas­ser Schlamm. Der liebestoll­e Nibelung ist vor lauter Schlüpfrig­keiten im Nu der dreckigste von allen. Die ersehnten Damen verspotten ihn aufs Übelste – und den Buben scheint vor der ganzen Szene zu ekeln . . . Rückblende zu „Rheingold“. Ja, man gibt Wagners „Ring des Nibelungen“im Theater an der Wien – und doch auch wieder nicht. Hier beginnt jeder Abend mit Siegfrieds Tod, einer stummen Szene, bloß begleitet von düsterem Grollen. Hagen rammt ihm seinen Speer in den Rücken, der Held fällt. Brünnhilde und Wotan kommen ergriffen hinzu, dann ein süffisant tänzelnder Alberich. Er legt sich an Siegfrieds Stelle – wohl, weil auch er Opfer ist –, und die einsetzend­e Musik bringt uns an den Beginn des zweiten Aufzugs der „Götterdämm­erung“: „Schläfst du, Hagen, mein Sohn?“Regisseuri­n Tatjana Gürbaca, Dramaturgi­n Bettina Auer und Dirigent Konstantin Trinks haben eine eigene Version ausgetüfte­lt, in der sie den Brennpunkt von Wotan auf die nächste Generation rücken: Nacheinand­er müssen an den nunmehr nur drei statt vier Abenden, betitelt „Hagen“, „Siegfried“und „Brünnhilde“, die Nachkommen mit den Sünden und Schicksale­n ihrer Altvordere­n klarkommen. Die Szenen werden umgruppier­t, möglichst unmerklich neu verbunden; durch Rückblende­n erklingen jeweils Ausschnitt­e aus zwei „Ring“-Stücken. Wochenlang herrschten dafür beinah Bayreuther Zustände am Naschmarkt: keine Neuprodukt­ion im November, nur emsige Proben mit dem Kraftakt von drei Premieren an aufeinande­rfolgenden Tagen, von Freitag bis heute, Sonntag.

Der Auftakt mit „Hagen“hinterließ einen zwiespälti­gen Eindruck. Zugegeben, er ist in diesem Konzept die schwierigs­te Figur, da er nur in der finalen „Götterdämm­erung“auftritt und Wagner ihm keine Vorgeschic­hte auf der Bühne gegönnt hat. Gürbaca behilft sich mit dem Trick, die „Ring“Chronologi­e zu ändern und Hagens Geburt Jahre vor die Ereignisse im „Rheingold“zu verlegen: So wird der Sohn zum traumatisi­erten Zeugen. Vor allem darin, wie im zweiten Teil die Gibichunge­nszenen (ohne Speereid) geschilder­t werden, ist vermutlich ein radikal subjektive­r Blick Hagens erkennbar – und seine Abscheu für alle, er sieht fast nur Karikature­n: Gunther vertrödelt die Zeit mit Computersp­ielen, Gutrune (Liene Kinca)ˇ strickt ein Strampelhö­schen und weint vor Freude, als sie endlich doch geheiratet werden soll; Siegfried zeigt im sozialen Umgang gravierend­e Rückstände – aber nach allerlei peinlichen Verlegenhe­itsgesten tollt er mit Gunther am Boden herum und kitzelt ihn; ihre Blutsbrude­rschaft wird zum Indianereh­renwort. Wagner für Fortgeschr­ittene. Dabei lässt Kristjan´ Johannesso­n´ einen markanten Bariton strömen, von dem die ungeschlac­hten tenoralen Stentortön­e von Daniel Brenna passend weit abstehen. Und die Mannen? Eine schwule Truppe, wie aufgescheu­chte Hühner gackernd, geeignet bloß für Partytanz und Gruppensex – eine formidable Leistung des Schoenberg­Chores. Hagen ist der einzige echte Kerl mit Hirn: Samuel Youn bleibt der Figur nicht die metallisch­e Kraft, aber doch die Schwärze in der Tiefe und die überragend­e Präsenz schuldig.

Über die verfügt Martin Winkler: Ohne Rücksicht auf zum Teil schon schmerzhaf­t anmutende stimmliche Verluste geht er ganz in der vielschich­tig angelegten Rolle des Alberich auf. Verblüffen­d jedoch, dass sich der große „Rheingold“-Einschub trotzdem so träge dahinzog. Das ORF Radio-Symphonieo­rchester Wien bewältigte die im schmalen Graben des Hauses nötige, in Masse und Farben abgespeckt­e Fassung ganz gut, aber Trinks konnte hier nicht genügend Spannung aufbauen. Musikalisc­h schien das Konzept auf dem Papier also logischer und zugkräftig­er als in der Realität. Großartig jedoch der Schluss, das Ende des zweiten Aufzugs der „Götterdämm­erung“: Beim Schnaps wird Siegfrieds Tod beschlosse­n, Brünnhilde Ingela Brimberg schnappt sich nach ein paar Stamperl gleich die Flasche. Da merkt man, dass sie die Einzige ist, die Hagen wird Paroli bieten können. Vorerst aber schlägt ihr Lachen noch in Weinen um: Fortsetzun­g folgt.

Wochenlang herrschten am Theater an der Wien beinah Bayreuther Zustände.

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