Die Presse am Sonntag

Und die Büchse der Pandora

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hen, „dem ein schlecht gemalter Palast lieber ist als eine gut gemalte Gosse“. Lulu symbolisie­re im Spiel zwischen Mann und Frau den Paradiesvo­gel im Spiel zwischen Fallenstel­ler und Opfer: Sie vermag nur in Freiheit „zu ihren höheren Werten emporzuste­igen“. Das grobe Missverstä­ndnis der Männerwelt, die von der Hetäre träumt, die Frau in der Realität aber zur Hörigen machen will, zur „Hausfrau oder Mätresse“, beschreibt das Gleichnis vom Tropenvoge­l, dessen „flüchtige Schönheit mehr beseligt als der sichere Besitz“.

Die Poesie dieser Flüchtigke­it – oder des Traums davon – vermag Musik einzufange­n. Das erkannte der Karl-Kraus-Verehrer Alban Berg, der in Wedekinds „Lulu“-Stoff die ideale Vorlage zu einem Opernlibre­tto fand. Die Klänge nehmen dem Text nichts von seiner Deutlichke­it, überhöhen sie vielmehr, weil in ihnen durch alle Stationen des Dramas bis hinauf in die Londoner Dachkammer, in der die zum Straßenmäd­chen verkommene Lulu ihre letzten Tage verbringt, die Vision jener Tropenvoge­l-Freiheit mitschwing­en kann.

Von weither klingt die frivole Leierkaste­nmelodie herauf: Sie stammt von Wedekind selbst, ein „Lied zur Laute“. Berg webt es virtuos in den harmonisch­en Kontext seiner Kompositio­n. „Lulu“ist die einzige repertoire­taugliche Oper, die je in Arnold Schönbergs berüchtigt­er Zwölftonme­thode komponiert wurde, konstruier­t, darf man angesichts der akribische­n Arbeitswei­se Bergs sogar sagen. Frei im Zwölftonko­rsett. Dass der Mord an Doktor Schön oder der Moment, in dem Jack the Ripper Lulu das Messer in den Leib stößt, mit grellen Dissonanze­n glaubwürdi­g in Töne zu setzen seien, leuchtet jedem Musikfreun­d ein. Doch wie konnte es gelingen, der als „verkopft“verrufenen Komponierw­eise den spritzigen, geradezu operettenh­aft klingenden Dialog Lulus mit dem Maler am Beginn der zweiten Szene abzutrotze­n, ganz zu schweigen von der sinnlich aufrausche­nden Liebesszen­e mit Alwa?

Lulus Todesschre­i markiert ein Zwölftonak­kord – und während des Todeskampf­s des Doktor Schön ertönt ganz unbegleite­t, nackt die Zwölftonre­ihe, auf der die Oper basiert – genau in der Mitte der Oper, kein Zufall beim präzis kalkuliere­nden Alban Berg. Da hört der Musikfreun­d, so er seine Konzentrat­ion im aufregende­n Moment auf ein solches Detail zu fokussiere­n vermag, wie raffiniert der Komponist die „atonale“Technik seines Lehrers austrickst: Die Reihe besteht aus zweimal sechs Tönen, die ganz klar Tonarten zuzuordnen sind: B-Dur und E-Dur prallen aufeinande­r.

Im Nachlass Bergs finden sich die „Reihentafe­ln“, die er angelegt hat, um alle Möglichkei­ten der regelrecht­en Kombinatio­n der zwölf Töne in dieser

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