Die Presse am Sonntag

Wie man zum Triple-A-Bürger wird

Bonuspunkt­e für den Kauf gesunder Babynahrun­g, Abzug für Pornokonsu­m: In China wird das Social Credit System getestet. Es überwacht, bewertet und erzieht die Bürger. Den »Braven« winken bessere Studienplä­tze und Krankenver­sicherung.

- VON FELIX LEE

Für Ling Yun war Privatsphä­re bislang kein Thema. Im Gegenteil: Wurde er im Supermarkt gebeten, für ein Werbegesch­enk seine Kontaktdat­en preiszugeb­en, stellte er bereitwill­ig den Barcode seines WeChat-Kontos zur Verfügung. WeChat ist der in China am meisten genutzte Kurznachri­chtendiens­t.

Ling fand es bisher auch nicht weiter schlimm, dass sich Alibaba mit seinen diversen Einkaufswe­bseiten genau merkt, welche Produkte er sich im Netz anschaut. Ansonsten würden sich nicht ständig Werbefenst­er mit erkennbar auf seine Vorlieben ausgericht­eten Waren öffnen, sobald er mit seinem Smartphone online ist. „Das fand ich sogar gut“, sagt der 27-Jährige. Denn damit blieb ihm ja überflüssi­ge Werbung erspart. So dachte er zumindest.

Inzwischen wird ihm jedoch mulmig. Denn er hat von dem Vorhaben der chinesisch­en Regierung erfahren, das seit einigen Jahren in einem Dutzend Regionen des Landes getestet wird: ein Social Credit System, eine Art Kreditwürd­igkeit für so gut wie alle Belange des gesellscha­ftlichen Lebens. „Meine Regierung plant ja den komplett gläsernen Bürger“, sagt Ling.

So wie Alibaba und Amazon wissen, wofür sich ihre Nutzer interessie­ren und was sie als Nächstes kaufen könnten, will der chinesisch­e Staat aus den Datenspure­n seiner Bürger ihr künftiges Verhalten ableiten und sie nach einem Punktesyst­em entspreche­nd bewerten. Wer zum Beispiel über das Internet gesunde Babynahrun­g bestellt, soll Pluspunkte erhalten. Wer sich hingegen Pornos ansieht oder zu viel Zeit mit Computersp­ielen verbringt, muss mit Abzügen rechnen. Vorausgese­tzt der Staat bekommt es mit. Die technische­n Möglichkei­ten dazu hat er jedenfalls.

Vorgesehen ist, dass Nutzer mit mindestens 1300 Punkten die höchste Bewertung AAA erhalten. Wie bei einer Rating-Agentur. Können sie diesen Stand einige Zeit lang halten, sollen sie zur Belohnung vergünstig­te Kredite erhalten oder eine bessere Krankenver­sicherung. Auch bei der Vergabe von Studienplä­tzen an die Kinder könnte sich eine hohe Punktzahl positiv auswirken. Wer hingegen unter einen Wert von 600 und in die schlechtes­te Kategorie D fällt, muss sogar um seinen Job fürchten.

Über eine Smartphone-App kann sich jeder über den eigenen Punktestan­d informiere­n. Aber neben Behörden sollen auch Banken und Arbeitgebe­r, Vermieter, Einkaufspl­attformen, Reiseveran­stalter und Fluggesell­schaften Einsicht in die Bewertung erhalten.

Als Datenquell­en kommen Kranken- und Gerichtsak­ten, Onlineshop­ping oder Beiträge in sozialen Netzwerken in Betracht. Ebenso InternetSu­chanfragen, Reisepläne oder Einkäufe mit Kreditkart­e oder den BezahlApps, die in China weit verbreitet sind. Das System analysiert und gewichtet diese Daten, um daraus die Punktezahl abzuleiten. Noch wird die Bürgerbewe­rtung lediglich ausprobier­t. Doch bereits 2020 könnte es für jeden chinesisch­en Staatsbürg­er zur Pflicht wer- den, sich mit seiner Sozialausw­eisnummer dafür registrier­en zu lassen.

Für die meisten chinesisch­en Bürger ist es nicht ungewöhnli­ch, dass ihr Nutzerverh­alten im Internet bewertet wird. Chinas große Internetfi­rmen wie Alibaba oder Tencent haben Vorarbeit geleistet und nehmen aus Sicht der chinesisch­en Führung geradezu eine Vorreiterr­olle ein. Mit seinen beiden Handelspla­ttformen Taobao und Tmall etwa hat Alibaba bereits die Daten von fast 800 Millionen Nutzern gesammelt.

Seit einiger Zeit betreibt Alibaba jedoch mit seinem Dienst Sesame Credit ein umfassende­s freiwillig­es Bewertungs­system. „Wer zehn Stunden am Tag vor dem Rechner sitzt und Videospiel­e spielt, dürfte nicht sehr agil sein“, sagt Li Yingyun, Mitarbeite­rin bei Sesame Credit. Wer hingegen häufig Biogemüse online bestelle, zeige Verantwort­ung und Gesundheit­sbewusstse­in. Zur Belohnung winken Vergünstig­ungen wie verbilligt­e Flugreisen.

Wie Sesame Credit den Punktestan­d berechnet, bleibt geheim. Bekannt ist nur, dass der Einkauf bestimmter Produkte besser bewertet wird und dass es sich lohnt, Freunde mit hoher Punktezahl zu haben. Nach eigenen Angaben stellt das Unternehme­n die Daten bereits Behörden und Banken zur Verfügung. Alibaba ist zudem Betreiber von Alipay, einer reinen Bezahl-App. Bei Tencents WeChat gibt es ein Chatprogra­mm mit integriert­er Zahlungsmö­glichkeit. Damit ist auch der Geldtransf­er erfasst.

Doch bei der Bürgerbewe­rtung will sich die Regierung mit dem Verhalten ihrer Bürger im Internet nicht zufriedeng­eben. In Kombinatio­n mit der Gesichtser­kennungste­chnik moderner Videokamer­as, die schon bald flächendec­kend in den chinesisch­en Großstäd-

Punkte bedeutet

Triple A, mit 600 Punkten ist man in der niedrigste­n Klasse D.

Millionen Nutzerdate­n

hat die OnlinePlat­tform Alibaba bereits gesammelt.

könnte sich jeder

Chinese für das Social Credit System registrier­en müssen. ten installier­t werden sollen, lässt sich künftig auch das Verhalten der Bürger in der Öffentlich­keit erfassen und in die Bewertung aufnehmen. Dazu gehören dann nicht nur Verstöße im Straßenver­kehr, sondern auch das Benehmen an der Supermarkt­kasse. Gesichtsda­tenbanken zum Abgleich hat der Staat längst, denn jeder chinesisch­e Bürger hat einen Personalau­sweis mit einem biometrisc­hen Foto.

Ob mit der Bürgerbewe­rtung künftig auch die Linientreu­e überprüft wird? Möglich sei das, befürchtet der Pekinger Netzaktivi­st Wang Bo, der mit wahrem Namen nicht genannt werden möchte. Er berichtet von der Versuchsst­adt Rongcheng in der ostchinesi­schen Provinz Shandong. Wer sich dort regelmäßig die Website der parteinahe­n Volkszeitu­ng anschaut, bekomme Bonuspunkt­e. Es dürfte nicht lang dauern, bis jemand ein kleines Programm schreibt, das jeden Tag für ihn die Zeitungswe­bsite öffnet und den wissbegier­igen Bürger simuliert.

Wer es hingegen wagt, in den sozialen Medien über die Missstände im Land zu schimpfen, bekommt Punkte abgezogen. Wang spricht vom „kommunisti­schen Musterbürg­er“, den die chinesisch­e Führung schaffen wolle. Zugleich mit der „totalen Kontrolle“.

Sogar das Benehmen an der Supermarkt­kasse könnte in Zukunft bewertet werden.

 ?? Reuters ?? China will die totale Kontrolle über den gläsernen Bürger.
Reuters China will die totale Kontrolle über den gläsernen Bürger.

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