»Das sind für mich keine Patrioten«
Der deutsche Grünen-Chef, Cem Özdemir, über FPÖ und AfD, die schwierige Regierungsbildung in Deutschland, das Leiden der Parteifreunde in Österreich und Kritik am politischen Islam, die man »nicht in Watte packen« soll.
Es sind seltsame Zeiten in Deutschland. Das merkt man auch daran, dass führende GrünPolitiker für Schwarz-Rot plädieren. Robert Habeck, der als Ihr möglicher Nachfolger als Parteichef gehandelt wird, hat zum Beispiel gesagt: „Lieber Große Koalition als Neuwahlen“. Unterschreiben Sie den Satz? Cem Özdemir: Wir fürchten Neuwahlen nicht. Aber es geht zunächst darum, mit dem Ergebnis vom 24. September umzugehen, da sind jetzt SPD und Union am Zug. Und auch wenn vier weitere Jahre Große Koalition bei mir alles andere als Begeisterungsstürme auslösen, so gibt es doch ein Thema, bei dem sie vielleicht sogar mehr bewegen kann, als das in einer Jamaika-Koalition mit der FDP möglich gewesen wäre, nämlich bei der Europa-Politik. Apropos: SPD-Chef Martin Schulz hat die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 vorgeschlagen. Das ist Tagträumerei. Man muss immer von den Mitgliedsländern ausgehen, wie sie tatsächlich existieren. Die Visegradstaaten´ sind nicht unbedingt enthusiastisch, was die Vertiefung der Europäischen Union angeht. Auch in Österreich könnte es künftig eine Regierung geben, die nicht besonders vertiefungswillig in der EU-Frage scheint. Es gilt jetzt anzupacken. Die Projekte, wie eine Verteidigungsunion, liegen ja auf dem Tisch. Die Bundesregierung, wer auch immer sie bildet, muss auf Emmanuel Macrons Reformvorschläge bis spätestens Ostern antworten. Diese noch zu bildende Regierung könnte ja theoretisch auch eine schwarz-grüne Minderheitsregierung sein. Die Frage stellt sich derzeit nicht. SPDChef Martin Schulz robbt sich immer mehr an die Große Koalition heran und die Basis zieht widerwillig mit. Aber falls diese Gespräche scheitern, werden wir nicht weglaufen vor der Verantwortung. Ein Gedankenspiel: Wenn Sie dann Ihr Duzfreund FDP-Chef Christian Lindner wider Erwarten anruft und sagt: „Cem, reden wir doch noch mal über eine Jamaika-Koalition“: Was sagen Sie ihm? Ich würde antworten: „Christian, meinst du es wirklich ernst? Dann lass uns reden. Oder ist dir am Ende wieder deine Partei wichtiger als die Zukunft des Landes?“ Ich frage auch deshalb, weil es nach dem Jamaika-Aus viele Feindseligkeiten gab. Ihr Parteifreund Jürgen Trittin etwa nannte die FDP eine „rechte Protestpartei“, die „dezidiert europafeindlich“sei. Mit so einer Partei wollen Sie koalieren? Wir müssen uns ja jetzt nicht mit Samthandschuhen anfassen. Aber demokratische Parteien müssen prinzipiell gesprächsbereit und in der Folge auch untereinander koalitionsfähig sein. Ansonsten kommt ja immer die Große Koalition heraus. Und wozu das führt, sehen wir in Österreich: Es stärkt die Ränder, die Politikverdrossenheit nimmt zu. Aber die Zitate lassen nicht darauf schließen, dass es ein harmonisches Miteinander in der Regierung geworden wäre. Wir haben gerade eine sehr unschöne Erfahrung mit der FDP gemacht. Nach mehreren Wochen und kurz vor der Einigung hat die FDP den Stecker gezogen und den Kurs auf Fundamentalopposition gesetzt. Da ist die Frage nach der Regierungsfähigkeit der FDP im Bund aktuell doch sehr berechtigt. Wann wurde Ihnen in den Verhandlungen klar, dass die FDP Jamaika vielleicht doch nicht will? Als CSU-Chef Horst Seehofer andeutete, wie in der Flüchtlingspolitik ein Kompromiss gelingen könnte. Da hat Lindner ihn unterbrochen. Er hat erklärt, wenn sich CSU und Grüne jetzt annähern, dann werde er die Ursprungsposition der CSU einnehmen. In dem Moment war klar: Die FDP ist am Gelingen des Projekts nicht interessiert. Wir Grünen haben uns aber nicht rausekeln lassen. Wir sind verhandlungsbereit geblieben. Dieser geschlossene und pragmatische Kurs wird vom Wähler auch honoriert, wenn man sich aktuelle Umfragen ansieht. Sie haben danach erklärt, Lindner schaue zu viel nach Österreich. Was meinten Sie damit? Die Grundfrage ist doch: Bekommt man Rechtspopulisten klein, indem man ihnen nach dem Mund redet oder dadurch, dass man konkrete Probleme löst? Letzteres ist mein Ansatz. Wobei die FPÖ gemessen an den Umfragen schon kleiner wurde. Sie war 2015 und 2016 lange auf Platz eins gelegen. Das stimmt, aber zu welchem Preis? Die anderen Parteien sind teils erheblich nach rechts gerückt. Man wird sehen, ob die Gesellschaft in Österreich unter der neuen Regierung offen bleibt, ob die Menschen nicht nach Herkunft beurteilt werden, sondern danach, ob sie die Ärmel hochkrempeln für das Land. Welche Auswirkungen hätte eine schwarzblaue Regierung auf Europa? Es bleibt abzuwarten, ob sich die FPÖ in den Kanon der proeuropäisch ausge- richteten österreichischen Politik einordnet oder permanent für Störfeuer sorgt. Die Führungen von FPÖ und AfD sind für mich übrigens keine Patrioten, auch wenn sie das gerne von sich selbst behaupten. Wer sein Land wirklich liebt, kämpft für ein starkes Europa. Zurück zu Ihrem Ansatz: Wie löst man denn die Probleme, um Rechtspopulisten kleinzuhalten? Man wird es nicht allen recht machen können, gerade wenn es um Wandel und Weltoffenheit geht. Wir müssen uns aber um jene kümmern, die sich abgehängt fühlen, zum Beispiel im ländlichen Raum. Dort gibt es, ob zu Recht oder zu Unrecht, die Klage: „Uns hat man jahrelang gesagt, dass es kein Geld für bessere Schulen, öffentlichen Verkehr oder die Altenpflege gibt, für die Flüchtlinge war dann aber Geld da.“Diesen Menschen wollen wir uns zuwenden. Die Flüchtlingspolitik einer Jamaika-Koalition hätte auf eine Politik gesetzt, die von Humanität und Ordnung bestimmt wird. Beides ist wichtig. Daraus wird nichts. Stattdessen droht den Grünen ein Oppositionsdasein als kleinste von sechs Fraktionen im Bundestag. Dabei gab es Zeitfenster, da wurden die Grünen als neue Volkspartei gehandelt. Man lag in Umfragen vor der SPD. Was ist da passiert? Wir haben manche Chancen für uns in
Cem Özdemir
(51) ist seit 2008 Co-Parteichef der deutschen Grünen. Noch einmal will er für das Spitzenamt aber nicht kandidieren. Bei der Bundestagswahl holten die Grünen mit Özdemir als Co-Spitzenkandidat 8,9 Prozent, ein kleines Plus im Vergleich zum schwachen Ergebnis 2013 (8,4 Prozent). Zuletzt stiegen die Umfragewerte weiter. Özdemir stammt aus Baden-Württemberg, wo er als Sohn eines türkischen „Gastarbeiters“aufwuchs. der Vergangenheit nicht genutzt. Das muss ich als Parteivorsitzender auch selbstkritisch einräumen. Und die politische Konkurrenz hat sich uns zumindest in den Überschriften angenähert. Vor der Bundestagswahl hieß es oft, dass alle Parteien inzwischen ergrünt seien. Die Sondierungsgespräche haben aber eindrucksvoll gezeigt, dass das nicht stimmt. Selbst für die Einhaltung der von der Regierung unterzeichneten Klimaziele mussten wir hart kämpfen. Die Menschen bewegt derzeit aber wohl nicht nur der Klimawandel. Könnte auch das ein Teil des Problems der Grünen sein? Dieselben Leute, denen unser Kampf gegen die Klimakrise wichtig ist, machen sich Sorgen um ihre Sicherheit. Sie wollen wissen, wie es um den Schulerfolg ihrer Kinder in einer bunten Gesellschaft bestellt ist. Auch darauf müssen wir Antworten haben und die sind manchmal unbequem. Dabei waren die Grünen dort lange Zeit sehr erfolgreich. Ich kann mich daran erinnern, dass es in Deutschland eine Zeit lang keine Klausur gab, ohne dass österreichische Grüne als Experten eingeladen waren, um uns zu beraten. Wir haben viel von ihnen gelernt. Was lernen Sie jetzt aus dem grünen Debakel in Österreich? Man sieht, wozu eine Spaltung führt. Die Grünen müssen geschlossen und pragmatisch sein. Nur dann können wir auf die Dauer erfolgreich sein. Die Grünen in Österreich waren auch nicht pragmatisch genug? Zumindest waren sie nicht geschlossen genug. Ich halte Geschlossenheit für einen Wert an sich, auch wenn das ein hohes Maß an Frustrationstoleranz erfordert. Aber die Anliegen, um die es uns geht, müssen immer wichtiger sein als das eigene Ego. Die Grünen sind eine emanzipatorische Kraft, wir haben mit unserer Kritik an den reaktionären Tendenzen in den beiden großen Kirchen Reformen angestoßen. Dieselben Maßstäbe müssen wir nun an einen leider überwiegend konservativ oder gar fundamentalistisch daherkommenden Islam anlegen. Es gibt keinen Grund, das in Watte zu packen. Wer mit Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern ein Problem hat, wird in dieser Gesellschaft nicht glücklich werden. Das sage ich bewusst als jemand, der aus einer muslimischen Gastarbeiterfamilie stammt, gerade weil ich unsere offene Gesellschaft so großartig finde. Müssen die Grünen diesen Punkt künftig stärker betonen? Wir wollen die Weltoffenheit unserer Gesellschaften verteidigen gegen die FPÖs und AfDs. Aber gerade deshalb ist es wichtig, Probleme ohne Schaum vorm Mund, aber sehr klar zu benennen, zum Beispiel die oft genug archaischen Familienstrukturen oder ein vormodernes Frauenverständnis. Unsere Gesellschaft hat mit dem Grundgesetz eine wunderbare Basis. Es gilt für alle gleichermaßen. Das müssen wir auch den Menschen vermitteln, die zu uns kommen. Das erwarten übrigens auch viele Einwanderer, die schon lange hier leben und eine neue Heimat gefunden haben. Die Grenze verläuft nicht zwischen Migranten und Deutschen. Sie verläuft zwischen Demokraten und Antidemokraten.