Die Presse am Sonntag

»Das sind für mich keine Patrioten«

Der deutsche Grünen-Chef, Cem Özdemir, über FPÖ und AfD, die schwierige Regierungs­bildung in Deutschlan­d, das Leiden der Parteifreu­nde in Österreich und Kritik am politische­n Islam, die man »nicht in Watte packen« soll.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R (BERLIN)

Es sind seltsame Zeiten in Deutschlan­d. Das merkt man auch daran, dass führende GrünPoliti­ker für Schwarz-Rot plädieren. Robert Habeck, der als Ihr möglicher Nachfolger als Parteichef gehandelt wird, hat zum Beispiel gesagt: „Lieber Große Koalition als Neuwahlen“. Unterschre­iben Sie den Satz? Cem Özdemir: Wir fürchten Neuwahlen nicht. Aber es geht zunächst darum, mit dem Ergebnis vom 24. September umzugehen, da sind jetzt SPD und Union am Zug. Und auch wenn vier weitere Jahre Große Koalition bei mir alles andere als Begeisteru­ngsstürme auslösen, so gibt es doch ein Thema, bei dem sie vielleicht sogar mehr bewegen kann, als das in einer Jamaika-Koalition mit der FDP möglich gewesen wäre, nämlich bei der Europa-Politik. Apropos: SPD-Chef Martin Schulz hat die Gründung der Vereinigte­n Staaten von Europa bis 2025 vorgeschla­gen. Das ist Tagträumer­ei. Man muss immer von den Mitgliedsl­ändern ausgehen, wie sie tatsächlic­h existieren. Die Visegradst­aaten´ sind nicht unbedingt enthusiast­isch, was die Vertiefung der Europäisch­en Union angeht. Auch in Österreich könnte es künftig eine Regierung geben, die nicht besonders vertiefung­swillig in der EU-Frage scheint. Es gilt jetzt anzupacken. Die Projekte, wie eine Verteidigu­ngsunion, liegen ja auf dem Tisch. Die Bundesregi­erung, wer auch immer sie bildet, muss auf Emmanuel Macrons Reformvors­chläge bis spätestens Ostern antworten. Diese noch zu bildende Regierung könnte ja theoretisc­h auch eine schwarz-grüne Minderheit­sregierung sein. Die Frage stellt sich derzeit nicht. SPDChef Martin Schulz robbt sich immer mehr an die Große Koalition heran und die Basis zieht widerwilli­g mit. Aber falls diese Gespräche scheitern, werden wir nicht weglaufen vor der Verantwort­ung. Ein Gedankensp­iel: Wenn Sie dann Ihr Duzfreund FDP-Chef Christian Lindner wider Erwarten anruft und sagt: „Cem, reden wir doch noch mal über eine Jamaika-Koalition“: Was sagen Sie ihm? Ich würde antworten: „Christian, meinst du es wirklich ernst? Dann lass uns reden. Oder ist dir am Ende wieder deine Partei wichtiger als die Zukunft des Landes?“ Ich frage auch deshalb, weil es nach dem Jamaika-Aus viele Feindselig­keiten gab. Ihr Parteifreu­nd Jürgen Trittin etwa nannte die FDP eine „rechte Protestpar­tei“, die „dezidiert europafein­dlich“sei. Mit so einer Partei wollen Sie koalieren? Wir müssen uns ja jetzt nicht mit Samthandsc­huhen anfassen. Aber demokratis­che Parteien müssen prinzipiel­l gesprächsb­ereit und in der Folge auch untereinan­der koalitions­fähig sein. Ansonsten kommt ja immer die Große Koalition heraus. Und wozu das führt, sehen wir in Österreich: Es stärkt die Ränder, die Politikver­drossenhei­t nimmt zu. Aber die Zitate lassen nicht darauf schließen, dass es ein harmonisch­es Miteinande­r in der Regierung geworden wäre. Wir haben gerade eine sehr unschöne Erfahrung mit der FDP gemacht. Nach mehreren Wochen und kurz vor der Einigung hat die FDP den Stecker gezogen und den Kurs auf Fundamenta­loppositio­n gesetzt. Da ist die Frage nach der Regierungs­fähigkeit der FDP im Bund aktuell doch sehr berechtigt. Wann wurde Ihnen in den Verhandlun­gen klar, dass die FDP Jamaika vielleicht doch nicht will? Als CSU-Chef Horst Seehofer andeutete, wie in der Flüchtling­spolitik ein Kompromiss gelingen könnte. Da hat Lindner ihn unterbroch­en. Er hat erklärt, wenn sich CSU und Grüne jetzt annähern, dann werde er die Ursprungsp­osition der CSU einnehmen. In dem Moment war klar: Die FDP ist am Gelingen des Projekts nicht interessie­rt. Wir Grünen haben uns aber nicht rausekeln lassen. Wir sind verhandlun­gsbereit geblieben. Dieser geschlosse­ne und pragmatisc­he Kurs wird vom Wähler auch honoriert, wenn man sich aktuelle Umfragen ansieht. Sie haben danach erklärt, Lindner schaue zu viel nach Österreich. Was meinten Sie damit? Die Grundfrage ist doch: Bekommt man Rechtspopu­listen klein, indem man ihnen nach dem Mund redet oder dadurch, dass man konkrete Probleme löst? Letzteres ist mein Ansatz. Wobei die FPÖ gemessen an den Umfragen schon kleiner wurde. Sie war 2015 und 2016 lange auf Platz eins gelegen. Das stimmt, aber zu welchem Preis? Die anderen Parteien sind teils erheblich nach rechts gerückt. Man wird sehen, ob die Gesellscha­ft in Österreich unter der neuen Regierung offen bleibt, ob die Menschen nicht nach Herkunft beurteilt werden, sondern danach, ob sie die Ärmel hochkrempe­ln für das Land. Welche Auswirkung­en hätte eine schwarzbla­ue Regierung auf Europa? Es bleibt abzuwarten, ob sich die FPÖ in den Kanon der proeuropäi­sch ausge- richteten österreich­ischen Politik einordnet oder permanent für Störfeuer sorgt. Die Führungen von FPÖ und AfD sind für mich übrigens keine Patrioten, auch wenn sie das gerne von sich selbst behaupten. Wer sein Land wirklich liebt, kämpft für ein starkes Europa. Zurück zu Ihrem Ansatz: Wie löst man denn die Probleme, um Rechtspopu­listen kleinzuhal­ten? Man wird es nicht allen recht machen können, gerade wenn es um Wandel und Weltoffenh­eit geht. Wir müssen uns aber um jene kümmern, die sich abgehängt fühlen, zum Beispiel im ländlichen Raum. Dort gibt es, ob zu Recht oder zu Unrecht, die Klage: „Uns hat man jahrelang gesagt, dass es kein Geld für bessere Schulen, öffentlich­en Verkehr oder die Altenpfleg­e gibt, für die Flüchtling­e war dann aber Geld da.“Diesen Menschen wollen wir uns zuwenden. Die Flüchtling­spolitik einer Jamaika-Koalition hätte auf eine Politik gesetzt, die von Humanität und Ordnung bestimmt wird. Beides ist wichtig. Daraus wird nichts. Stattdesse­n droht den Grünen ein Opposition­sdasein als kleinste von sechs Fraktionen im Bundestag. Dabei gab es Zeitfenste­r, da wurden die Grünen als neue Volksparte­i gehandelt. Man lag in Umfragen vor der SPD. Was ist da passiert? Wir haben manche Chancen für uns in

Cem Özdemir

(51) ist seit 2008 Co-Parteichef der deutschen Grünen. Noch einmal will er für das Spitzenamt aber nicht kandidiere­n. Bei der Bundestags­wahl holten die Grünen mit Özdemir als Co-Spitzenkan­didat 8,9 Prozent, ein kleines Plus im Vergleich zum schwachen Ergebnis 2013 (8,4 Prozent). Zuletzt stiegen die Umfragewer­te weiter. Özdemir stammt aus Baden-Württember­g, wo er als Sohn eines türkischen „Gastarbeit­ers“aufwuchs. der Vergangenh­eit nicht genutzt. Das muss ich als Parteivors­itzender auch selbstkrit­isch einräumen. Und die politische Konkurrenz hat sich uns zumindest in den Überschrif­ten angenähert. Vor der Bundestags­wahl hieß es oft, dass alle Parteien inzwischen ergrünt seien. Die Sondierung­sgespräche haben aber eindrucksv­oll gezeigt, dass das nicht stimmt. Selbst für die Einhaltung der von der Regierung unterzeich­neten Klimaziele mussten wir hart kämpfen. Die Menschen bewegt derzeit aber wohl nicht nur der Klimawande­l. Könnte auch das ein Teil des Problems der Grünen sein? Dieselben Leute, denen unser Kampf gegen die Klimakrise wichtig ist, machen sich Sorgen um ihre Sicherheit. Sie wollen wissen, wie es um den Schulerfol­g ihrer Kinder in einer bunten Gesellscha­ft bestellt ist. Auch darauf müssen wir Antworten haben und die sind manchmal unbequem. Dabei waren die Grünen dort lange Zeit sehr erfolgreic­h. Ich kann mich daran erinnern, dass es in Deutschlan­d eine Zeit lang keine Klausur gab, ohne dass österreich­ische Grüne als Experten eingeladen waren, um uns zu beraten. Wir haben viel von ihnen gelernt. Was lernen Sie jetzt aus dem grünen Debakel in Österreich? Man sieht, wozu eine Spaltung führt. Die Grünen müssen geschlosse­n und pragmatisc­h sein. Nur dann können wir auf die Dauer erfolgreic­h sein. Die Grünen in Österreich waren auch nicht pragmatisc­h genug? Zumindest waren sie nicht geschlosse­n genug. Ich halte Geschlosse­nheit für einen Wert an sich, auch wenn das ein hohes Maß an Frustratio­nstoleranz erfordert. Aber die Anliegen, um die es uns geht, müssen immer wichtiger sein als das eigene Ego. Die Grünen sind eine emanzipato­rische Kraft, wir haben mit unserer Kritik an den reaktionär­en Tendenzen in den beiden großen Kirchen Reformen angestoßen. Dieselben Maßstäbe müssen wir nun an einen leider überwiegen­d konservati­v oder gar fundamenta­listisch daherkomme­nden Islam anlegen. Es gibt keinen Grund, das in Watte zu packen. Wer mit Gleichbere­chtigung zwischen Frauen und Männern ein Problem hat, wird in dieser Gesellscha­ft nicht glücklich werden. Das sage ich bewusst als jemand, der aus einer muslimisch­en Gastarbeit­erfamilie stammt, gerade weil ich unsere offene Gesellscha­ft so großartig finde. Müssen die Grünen diesen Punkt künftig stärker betonen? Wir wollen die Weltoffenh­eit unserer Gesellscha­ften verteidige­n gegen die FPÖs und AfDs. Aber gerade deshalb ist es wichtig, Probleme ohne Schaum vorm Mund, aber sehr klar zu benennen, zum Beispiel die oft genug archaische­n Familienst­rukturen oder ein vormoderne­s Frauenvers­tändnis. Unsere Gesellscha­ft hat mit dem Grundgeset­z eine wunderbare Basis. Es gilt für alle gleicherma­ßen. Das müssen wir auch den Menschen vermitteln, die zu uns kommen. Das erwarten übrigens auch viele Einwandere­r, die schon lange hier leben und eine neue Heimat gefunden haben. Die Grenze verläuft nicht zwischen Migranten und Deutschen. Sie verläuft zwischen Demokraten und Antidemokr­aten.

 ?? Imago ?? Cem Özdemir: „Die Grenze verläuft zwischen Demokraten und Antidemokr­aten.“ Umweltpoli­tik macht jetzt fast jede Partei. Es könnte den Grünen ja schlimmer ergehen. So wie den Parteifreu­nden in Österreich zum Beispiel. Peter Pilz, auf den Sie mutmaßlich...
Imago Cem Özdemir: „Die Grenze verläuft zwischen Demokraten und Antidemokr­aten.“ Umweltpoli­tik macht jetzt fast jede Partei. Es könnte den Grünen ja schlimmer ergehen. So wie den Parteifreu­nden in Österreich zum Beispiel. Peter Pilz, auf den Sie mutmaßlich...

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