Die Presse am Sonntag

Was aus der guten Arbeit wurde

Früher galt die Dienstleis­tungsgesel­lschaft als rosige Zukunftsvi­sion. Heute bilden Pfleger, Kellner und Boten ein neues Proletaria­t. Wie kam es dazu? Und lässt es sich ändern?

- VON KARL GAULHOFER

In der Nachkriegs­zeit konnte man sich auf die Zukunft freuen. Noch schufteten viele in Fabriken, noch verband man Begriffe wie „Arbeitslei­d“und „Entfremdun­g“mit traurigen Menschen am Fließband, die für wenig Lohn ihrer monotonen Tätigkeit nachgingen. Aber am Horizont stand schon die Dienstleis­tungsgesel­lschaft. „Die große Hoffnung des 20. Jahrhunder­ts“nannte sie der französisc­he Ökonom Jean Fourastie.´ Er verhieß humanere Arbeit, sichere Jobs, höhere Bildung und bessere Löhne – und die westliche Welt folgte diesem Glauben. Was daran stimmte: Auf dem Acker rackern nur mehr sehr wenige, in den Fabriken auch nicht mehr so viele. Bei sieben von zehn Jobs geht es um irgendeine Form von Dienstleis­tung. Aber wer heute in der Industrie arbeitet, darf sich glücklich schätzen. Das neue Proletaria­t ist eine Reservearm­ee von Pflegerinn­en, Kellnern, H&M-Verkäuferi­nnen und Pizzaboten – lauter Servicetät­igkeiten. Wie kam es dazu?

In manchem lag schon Fourastie´ daneben. Er unterschät­zte, welch wichtige Rolle die Industrie auch in hoch entwickelt­en Volkswirts­chaften spielen kann – wenn sie etwa, wie in Deutschlan­d und Österreich, die Schwellenl­änder mit präzisen Maschinen und die ganze Welt mit technologi­sch hochgerüst­eten Autos versorgen. Das erfordert qualifizie­rte, gut bezahlte Ingenieure und Facharbeit­er. Umgekehrt übertrieb der Forscher mit dem Bildungsan­spruch an den tertiären Sektor: Straßenkeh­rer brauchen auch heute keinen Uni-Abschluss und bleiben arme Schlucker. Aber das Problem mit der Dienstleis­tung liegt tiefer. Wäre Fourastie´ öfter ins Konzert gegangen, dann wäre er vielleicht auf das Rätsel gestoßen, das William Baumol beschäftig­te. Das berühmte Beispiel des heuer verstorben­en US-Ökonomen: An den Musikern eines Streichqua­rtetts müsste jeder Unternehme­nsberater verzweifel­n. Ihre Produktivi­tät lässt sich nicht steigern. Spart man einen von ihnen ein, sind sie kein Quartett mehr, und spielen sie ihren Beethoven schneller herunter, beeinträch­tigt das den Hörgenuss. Nun gilt nach der klassische­n Theorie: Nur wenn eine Arbeitskra­ft pro Zeiteinhei­t mehr leistet, ist ihre Leistung auch mehr wert. Produktivi­tät ist die einzige Quelle höherer Löhne. Dennoch verdienen Musiker weit mehr als vor hundert Jahren. Ihre Löhne stiegen ähnlich stark wie in produktive­n Sektoren. Warum? Würde ihr Entgelt auf Dauer stagnieren, hätten sie schon längst den Beruf gewechselt. Banker als Parasiten. Diese „Baumol’sche Krankheit“bereitet Unbehagen: Offenbar verdienen Menschen in Dienstleis­tungsjobs mehr, als sie sich verdienen. Ihre Leistungen sind immer stärker überteuert. Oft ist das kein Problem. Banker, Werber, Anwälte und Steuerbera­ter stehen mit den Quellen wachsenden Reichtums in symbiotisc­her Beziehung (böse Zungen meinen: in parasitäre­r). Wachsen Kapital, Etat und Streitwert, darf mit der Verantwort­ung auch der Preis der Leistung steigen. Zudem machen sich immer mehr Dienstleis­ter mit Daten und ihrer Verarbeitu­ng nützlich. Das ist auf eigene Weise produktiv, weshalb hier manche vom vierten Sektor sprechen.

Aber auch bei vielen gewohnten Tätigkeite­n lassen sich höhere Löhne und Preise rechtferti­gen. Die immer kosteneffi­zientere Herstellun­g verbilligt T-Shirts und Fernseher und stärkt so unsere Kaufkraft. Die Kleiderkäs­ten und Wohnzimmer sind bald voll. Also konsumiere­n wir mehr Dienstleis­tungen. Steigende Preise nehmen wir dabei in Kauf, wenn der Anbieter die Qualität verbessern kann. Das ist oft der Fall: in Handel, Tourismus und Gastronomi­e, bei Fitnesstra­inern und Friseuren. Wobei es auch an uns liegt, was wir zu zahlen bereit sind. So geben etwa Franzosen einen höheren Anteil ihres Einkommens für Restaurant­besuche als Deutsche oder Österreich­er aus, die ihr Geld lieber für Handfestes wie Haus und Auto sparen. Bei Dienstleis­tungen regiere der Geiz, wie die „Süddeutsch­e“jüngst schrieb. Geizig

Prozent

beträgt der Anteil der Dienstleis­tungen an der Wertschöpf­ung in Österreich. Die Industrie macht 27,8 Prozent aus, Land- und Forstwirts­chaft nur 1,2 Prozent.

Prozent

trug der tertiäre Sektor 1960 zur heimischen Wertschöpf­ung bei. Der sekundäre Sektor war mit 47 Prozent größer. Auch die Land- und Forstwirts­chaft spielte mit elf Prozent noch eine relevante Rolle. zu sein kann sich eine Gesellscha­ft aber auch abgewöhnen – und so Servicekrä­ften zu mehr Lohn verhelfen.

Ein echtes Problem taucht auf, wo sich die Qualität kaum steigern lässt. Gleiche Leistung, immer höherer Preis: Im freien Markt sterben solche Berufe aus. Deshalb gibt es keine Schuhputze­r und Flickschus­ter mehr. Viele solcher Tätigkeite­n aber zählen zur staatliche­n Grundverso­rgung. Ob unsere Straßen sauber und sicher sind, hängt nur von der Zahl der Müllmänner und Polizisten ab, wie vor 100 Jahren. Dass ihre Löhne dennoch ständig steigen, belastet die öffentlich­en Budgets. In deren notorische­m Anschwelle­n sehen viele eine Unfähigkei­t der Politik, mit Steuermitt­eln gut zu wirtschaft­en. Da ist viel Wahres dran, vor allem bei reinen Verwaltung­stätigkeit­en. Aber die wichtigere Diagnose ist doch die Baumol’sche Krankheit. Das zeigt ein Vergleich mit verwandten privaten Angeboten: Ob staatliche­s Spital oder Schönheits­klinik, öffentlich­e Schule oder Eliteschmi­ede – die Personalko­sten nehmen überall unerbittli­ch zu.

Freilich haben Gesundheit und Bildung eine Sonderstel­lung. Menge und

An einem Streichqua­rtett muss jeder Unternehme­nsberater dieser Welt verzweifel­n. Staat oder privat? Bei Bildung und Gesundheit gilt es, einen kniffligen Knoten zu lösen.

Qualität werden hier immer mehr nachgefrag­t. Krankensch­western sollen sich mehr Zeit für Patienten nehmen, Lehrer ihre Schützling­e individuel­l fördern. Und wer Geld hat, gibt dafür liebend gern viel aus. Aber als Gesellscha­ft wollen wir diese Leistungen allen gleicherma­ßen zugutekomm­en lassen. Denn wenn die Reichen gesünder und besser ausgebilde­t als die Armen sind, sind auch die Chancen ungleicher verteilt. Deshalb stellen wir diese Bereiche unter die nivelliere­nde Obhut der Solidargem­einschaft. Damit verhindern wir aber, dass der Markt ihr ökonomisch­es Potenzial ausschöpft – und Kindergart­enpädagogi­nnen angemessen verdienen. Nur wenn wir diesen Knoten lösen, können sich die Träume von der Dienstleis­tungsgesel­lschaft doch noch erfüllen.

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