Die Presse am Sonntag

In Seattle probt man die kassenlose Gesellscha­ft

Keine Kassa, keine Schlange: Amazons Version des Supermarkt­s könnte den Einkauf revolution­ieren.

- VON JOSEF PUSCHITZ

Ein bisschen fühlt man sich wie ein Ladendieb. Das Unbehagen lässt sich schwer abschüttel­n, während man durch Amazon Go spaziert und Cornflakes und Fertigpizz­a einpackt. Dort, wo in anderen Supermärkt­en die Kassa steht, marschiert der Kunde unbehellig­t zur Tür hinaus. Das Konzept von Amazons erstem Supermarkt ist einfach: keine Schlangen, keine Kassa, kein Warten. Und wer das mulmige Gefühl beim Verlassen des Pilotladen­s in Seattle hinter sich gelassen hat, ist schnell überzeugt: So könnte die Zukunft des Einkaufens aussehen.

Gratis ist diese Zukunft nicht. Kurz nach Verlassen des Geschäfts meldet sich Amazons App mit der Rechnungss­umme. Kameras, NFC-Chips und geballte Rechenleis­tung zeichnen genau auf, was man aus dem Regal nimmt. Der Betrag wird von der Kreditkart­e abgebucht. Bislang kommen nur Amazon-Mitarbeite­r in den Genuss des stressfrei­en Einkaufens. Sie sollen in der Testphase sicherstel­len, dass man das System nicht austrickse­n kann. Kinderkran­kheiten des Pilotbetri­ebs, etwa bei wieder zurückgest­ellter Ware, sind schon ausgemerzt. Schwierigk­eiten soll Amazon Go aber auch haben, wenn sich mehr als zwanzig Kunden im Laden befinden. Im Herzen des „Amazon-Lands“. Das Geschäft, das über 170 Quadratmet­er Verkaufsfl­äche verfügt und im Dezember 2016 eröffnet hat, befindet sich im Herzen Seattles, in der 7th Avenue – mitten im „Amazon-Land“, einem ganzen Stadtteil, in dem es von Mitarbeite­rn des Onlineries­en wimmelt. So innovativ das Verkaufssy­stem ist, so unspektaku­lär ist das Geschäft: biedere Präsentati­on, der enorme technische Aufwand ist kaum sichtbar. Es gibt Milch, Gemüse, Obst, die typischen amerikanis­chen Fertigprod­ukte. In Seattle geht man bei Amazon Eier kaufen – und die Konkurrenz ist in Aufruhr.

Denn die Vorteile des Systems liegen auf der Hand: Wer seinen Kunden das Warten erspart, hat einen Wettbewerb­svorteil. Gerade in den USA, wo kaum ein Supermarkt ohne Selbstbedi­enungskass­en auskommt, würde das Angebot für eine „kassenlose“Gesellscha­ft auf fruchtbare­n Boden fallen. Und da wäre noch das Argument der geringeren Personalko­sten. Dieser Ausgabenpu­nkt dürfte allerdings vernachläs­sigbar sein, verglichen mit dem, was die Umrüstung in ein Amazon-Go-Modell kostet. Mit offizielle­n Zahlen hält sich der Konzern wie gewohnt zurück, aber laut Schätzunge­n müssen es Summen im mittleren zweistelli­gen Millionenb­ereich sein, die der frühere Buchhändle­r in die digitale Greißlerei gesteckt hat.

Wie Gründer Jeff Bezos in den 1990er-Jahren mit digitalen Mitteln den Buchhandel umgekrempe­lt hat, versucht es Amazon nun im Lebensmitt­elhandel. Für 13,7 Mrd. Dollar übernahm das Unternehme­n die US-amerikanis­che Biosuperma­rktkette Whole Foods. Ausflüge in Richtung Lebensmitt­elhandel unternimmt Amazon schon seit geraumer Zeit. Seit Jahren wird das Stadtbild von Seattle, dem Konzernsit­z des Händlers, von kleinen, grünen Lkw mit der Aufschrift „Amazon Fresh“geprägt. Die Fahrzeuge liefern frische Lebensmitt­el vor die Haustür, um den Amerikaner­n den Gang zum Supermarkt zu ersparen. Das Konzept geht allerdings nicht überall auf. In San Francisco, New York und Maryland stellte Amazon den Dienst jüngst wieder ein. Zehn Jahre hat der Konzern auf die Faulheit seiner Kunden gesetzt. Jetzt scheint sich abzuzeichn­en, dass sie für Lebensmitt­eleinkäufe doch selbst durch die Regale schlendern und sich vom Angebot inspiriere­n lassen wollen.

Hier kommen die 430 WholeFoods-Filialen ins Spiel. Im August gab der US-Wettbewerb­shüter FTC

Frisches Essen bis vor die Haustür? Das Konzept ging nicht überall in den USA auf.

grünes Licht für den Kauf, der Amazon in die vorderen Reihen des US-Lebensmitt­elhandels katapultie­rte. Schon Ende desselben Monats war das für die Kunden spürbar. Die Sprachsteu­erungsgerä­te Amazon Echo und Dot lagen in den Biosupermä­rkten auf. Produkte wie Äpfel, Eier, Bananen und Fleisch wurden merklich günstiger. Bislang war Whole Foods eher im Premiumseg­ment zu Hause, nun scheint Amazon ein breiteres Publikum ansprechen zu wollen.

Dass sich die Seattler die texanische Biokette geschnappt haben, hat aber nicht zuletzt mit dem riesigen Datenschat­z zu tun, den Whole Foods von seinen einkommens­starken Kunden besitzt. Die unzähligen Benutzerpr­ofile helfen Amazon, seine Algorithme­n zu verbessern und Produkte noch zielgerich­teter an die Abnehmer zu bringen. Damit der Supermarkt der Zukunft genau weiß, was sie kaufen werden – noch bevor sie es selbst wissen.

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