Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

In der Rinderzuch­t wenden sich viele Bauern von der einseitige­n Leistungss­teigerung ab – sie wollen gesündere, multifunkt­ionale Tiere. »Big Data« hilft ihnen dabei.

Big Data“mag für viele Bereiche etwas Neues sein – in der Rinderzuch­t ist es längst gang und gäbe: Aus unzähligen Daten über Leistung und Gesundheit eines Rindes und seiner Nachkommen wird regelmäßig ein „Zuchtwert“berechnet. Und damit Kälber mit erwünschte­n Eigenschaf­ten gezeugt werden, gibt es sogenannte Anpaarungs­programme – quasi Parship für Stier und Kuh.

Der Urahn aller 1,3 Mrd. Hausrinder, der ausgestorb­ene Auerochs, war einst neben dem Wisent der größte Pflanzenfr­esser Eurasiens. Vor 8000 bis 10.000 Jahren begannen Menschen im Nahen Osten, diese wilden Kolosse zu domestizie­ren. Das war sicher nicht einfach, aber lohnend: Rinder sind multifunkt­ionale Wesen par excellence. So viel Fleisch, Milch, Blut, Horn, Fell, Leder, Mist (Dünger) und Muskelkraf­t (Zugtier) konnte auf keine andere Weise gewonnen werden. Mit der Ausbreitun­g der ersten Bauern gelangten die Rinder auch nach Europa. Laut Genanalyse­n kam es immer wieder vor, dass sich Auerochsen einkreuzte­n. Diese Blutauffri­schung war auch dringend nötig, denn wie man heute weiß, stammen alle Rinder von nur 80 Elterntier­en ab. Die genetische Variation war also denkbar gering.

Durch gezielte Zuchtwahl wurden erwünschte Eigenschaf­ten (wie Gutmütigke­it oder Schnellwüc­hsigkeit) verstärkt, es entstanden regional angepasste Rinderrass­en. Der Ertragsdru­ck in der Landwirtsc­haft führte indes im vorigen Jahrhunder­t dazu, dass sich das Spektrum auf wenige Hochleistu­ngsrassen verengte und diese einseitig zu immer größeren Fleisch- und/oder Milchleist­ungen hochgezüch­tet wurden. Solche mit Kraftfutte­r versorgte „Turbokühe“geben jährlich 10.000 und mehr Kilo Milch. Zum Vergleich: Zur Aufzucht eines Kalbes benötigt eine Kuh rund 3500 Kilo Milch.

Gegen solche Pervertier­ungen regte sich Widerstand: Parallel zur Leistungsz­ucht wurden daher auch andere Zuchtziele definiert, etwa Fitness, Lebensdaue­r, Fruchtbark­eit oder Eutergesun­dheit. Österreich (mit einer vergleichs­weise moderaten Milchleist­ung von 7300 Kilo pro Kuh und Jahr) ist dabei ein Vorreiter. Diese Woche wurde nun sogar ein spezieller „Ökologisch­er Zuchtwert“eingeführt, in dem die Fitness der Tiere einen noch höheren Stellenwer­t einnimmt. Die Initiatore­n wollen dadurch insbesonde­re Biobauern und extensive Weidebetri­ebe (die weitgehend auf Kraftfutte­r verzichten) bei der Zucht unterstütz­en. Damit die Tiere, wie ihre Urahnen, multifunkt­ional bleiben. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum-Magazins“.

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