Ein schmutziges Geheimnis eint
Warum drastische Initiationsriten seit Jahrtausenden hartnäckig überleben: Von Platon zum Pastern, vom Stamm zum Studentenverband, vom die Gruppe stärkenden Schmerz.
In Stams waren es Tuben, die Neulingen von hinten eingeführt wurden, anderswo sind es Klobesen oder mit Vaseline beschmierte Nägel. In Stams ist es ein Schigymnasium, anderswo sind es Sportverbände, Eliteinternate oder das Militär. Immer aber sind es geschlossene Gruppen mit starken Hierarchien und jugendlicher Männlichkeitskultur, Gruppen, zu denen man unbedingt gehören will oder muss, in denen extreme Initiationsriten gedeihen. Sie bringen Schmerz, Scham, Angst und Ekel. Meist sind sie auf den Körper konzentriert, oft den nackten, teilweise unterschwellig oder direkt sexuell. Und meist sind sie geheim.
Weil sie geheim sind, ist auch ihre Geschichte schwer greifbar. Oft kommen sie nur ans Licht, weil dabei einer stirbt. Im dafür besonders berüchtigten russischen Militär ist dies fast ein Massenphänomen, doch auch in US-Studentenverbindungen geschieht es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder. Akademie der „wilden Tiere“. Schon 1912 schrieb ein britischer Korrespondent, Tod oder schwere Verletzung durch schikanöse Aufnahmeriten in Studentenverbindungen seien zu Standard-Titelzeilen amerikanischer Zeitungen geworden. Hazing nennt man diese Riten im englischsprachigen Raum, in den USA auch Griechische Praktiken. Nicht weil Platon vielleicht als Erster dieses Phänomen angedeutet hat (über Schikanen in seiner Akademie schrieb er, die Schüler seien wie „wilde Tiere“). Griechisch daran ist, dass die aus freimaurerischen Wurzeln entstandenen Verbindungen in den USA sich mit je drei Buchstaben des griechischen Alphabets benennen. Neben Militär und Sporteinrichtungen geraten sie am häufigsten wegen Hazings in die Schlagzeilen. Zuletzt im Februar, als ein Student nach zwölfstündigem Martyrium an den Folgen rituell verordneten Alkohols und mehrfacher Stürze starb. Zur „Tradition“gehört auch, dass die Anwesenden aus Angst zu spät Hilfe holen oder lebensrettende Informationen verschweigen. Nur vergleichsweise harmlos mutet da der derzeitige Prozess gegen einen Eliteuni-Studenten in New Hampshire an. Er soll das sexuell aufge- ladene Ritual „Senior’s Salute“, das Treffen zwischen einem älteren Studenten und einem – eher einer – jüngeren zur Vergewaltigung einer Kollegin genutzt haben.
Der erste dokumentierte Todesfall durch Hazing findet sich in einer Familiengeschichte aus dem Jahr 1838, aber die Praxis ist uralt. Nicht nur Platon ist ein Zeuge inneruniversitärer Schikanen, der heilige Augustinus berichtete ebenfalls davon, und im 6. Jahrhundert erließ der oströmische Kaiser Justinian ein Gesetz dagegen. Seit dem Mittelalter aber und vor allem in der Renaissance wurde das ritualisierte demütigende bis gewalttätige Regime der älteren über die jüngeren Studenten an europäischen Universitäten eine halboffizielle Institution. Nur die Exzesse dieses Pennalismus (benannt nach dem Haupt-Accessoire der Neulinge, dem Feder-Behälter) wurden immer wieder beklagt und bekämpft. Junge mussten Älteren dienen wie Knechte ihrem Herrn – ein System, das als „Fagging“in britischen Internaten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein überlebte. Der Schriftsteller Roald Dahl musste, wie er in seiner Autobiografie schreibt, älteren Schülern die Toilettensitze anwärmen.
Die Verteidiger des Pennalismus hatten auch gute Argumente: Er stabilisiere das hierarchische System, fördere die Unterwerfung des Einzelnen unter die Gemeinschaft, Selbstüberwindung und Opfergeist. Den Pennäler sah man als zu „behauendes“Rohmaterial. Ähnlich rechtfertigen Gruppen heute ihre Initiationsriten. Sie können sich dabei auf die Anthropologie berufen: Durch alle Kulturen ziehen sich Riten, die Heranwachsende absolvieren müssen, um als Mann oder Frau beziehungsweise als erwachsenes Stammesmitglied zu gelten. Drastische Riten sind das oft, da es ja auch ums Ganze geht, um einen existenziellen Einschnitt, Tod und Wiedergeburt. Auf Papua-Neuguinea etwa werden den Bur- schen komplizierte Krokodilhautmuster in Rücken, Hüfte und Gesäß geschnitten; so kann das göttliche Krokodil die Kindheit wegfressen. Der Schmerz als extreme Erfahrung und Prüfung ist nicht Kollateralschaden, sondern essenzielle Zutat, ebenso wie die Demütigung, die die Psyche stärken soll: Die Burschen werden eine Zeitlang wie Frauen behandelt. Der schlimmste Ritus. Zum Schrecklichsten gehören die Zeremonien der Mandan-Indianer: viertägiger Schlaf-, Essens- und Trinkentzug, Aufhängen an der aufgeschlitzten Haut, Abhacken eines kleinen Fingers. In diesen Stammesriten wurzeln auch die Initiationsriten von Geheimreligionen, wie Mithrasoder Isis- und Osiriskult, und damit auch die Riten der Freimaurer, die wiederum die Studenten inspirierten.
Vieles, was Gruppen in Urzeiten stärkte, stärkt sie heute noch. Jüngst zeigten Forscher rund um den Anthropologen Harvey Whitehouse, dass gemeinsamer Schmerz das Gruppengefühl besonders fördert. Andere Forschungen ergaben, dass körperlich extrem fordernde Aufnahmerituale Gruppen attraktiver wirken lassen – auf Männer, auf Frauen nicht. Eines aber wirkt bei Frauen wie Männern: Wir erachten generell Dinge als wertvoller, wenn wir einen hohen Preis dafür zahlen müssen oder mussten. Dass viele Riten sexuell aufgeladen sind, wurde auch so gedeutet: Männer umwerben Männer, die mit niedrigem jene mit hohem Status.
Auf Papua-Neuguinea werden Burschen Krokodilmuster in die Haut geschnitten.
Die Regel als Gewaltlizenz. Auch „schmutzige“Geheimnisse halten zusammen. Geheimhaltung und rigide Hierarchie, rituell bekräftigt: beides stabilisiert Gruppen. Zugleich ist genau das der Grund, warum diese Ritenkultur so leicht außer Kontrolle gerät. Sie ist ein Tor zum Regelbruch, Gewaltlizenz für die je Mächtigeren. Daher ist auch die Grenze zum sadistischen Spiel fließend. Früher spiegelte die hierarchische Struktur dahinter die Gesellschaft wider, heute steht sie noch dazu im Widerspruch zu ihr. Drastische Riten können Gruppen trotzdem auch heute stärken. Gegen die Gesellschaft aber nur. Gegen das Individuum sowieso.