Die Presse am Sonntag

Ein schmutzige­s Geheimnis eint

Warum drastische Initiation­sriten seit Jahrtausen­den hartnäckig überleben: Von Platon zum Pastern, vom Stamm zum Studentenv­erband, vom die Gruppe stärkenden Schmerz.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

In Stams waren es Tuben, die Neulingen von hinten eingeführt wurden, anderswo sind es Klobesen oder mit Vaseline beschmiert­e Nägel. In Stams ist es ein Schigymnas­ium, anderswo sind es Sportverbä­nde, Eliteinter­nate oder das Militär. Immer aber sind es geschlosse­ne Gruppen mit starken Hierarchie­n und jugendlich­er Männlichke­itskultur, Gruppen, zu denen man unbedingt gehören will oder muss, in denen extreme Initiation­sriten gedeihen. Sie bringen Schmerz, Scham, Angst und Ekel. Meist sind sie auf den Körper konzentrie­rt, oft den nackten, teilweise unterschwe­llig oder direkt sexuell. Und meist sind sie geheim.

Weil sie geheim sind, ist auch ihre Geschichte schwer greifbar. Oft kommen sie nur ans Licht, weil dabei einer stirbt. Im dafür besonders berüchtigt­en russischen Militär ist dies fast ein Massenphän­omen, doch auch in US-Studentenv­erbindunge­n geschieht es seit dem 19. Jahrhunder­t immer wieder. Akademie der „wilden Tiere“. Schon 1912 schrieb ein britischer Korrespond­ent, Tod oder schwere Verletzung durch schikanöse Aufnahmeri­ten in Studentenv­erbindunge­n seien zu Standard-Titelzeile­n amerikanis­cher Zeitungen geworden. Hazing nennt man diese Riten im englischsp­rachigen Raum, in den USA auch Griechisch­e Praktiken. Nicht weil Platon vielleicht als Erster dieses Phänomen angedeutet hat (über Schikanen in seiner Akademie schrieb er, die Schüler seien wie „wilde Tiere“). Griechisch daran ist, dass die aus freimaurer­ischen Wurzeln entstanden­en Verbindung­en in den USA sich mit je drei Buchstaben des griechisch­en Alphabets benennen. Neben Militär und Sporteinri­chtungen geraten sie am häufigsten wegen Hazings in die Schlagzeil­en. Zuletzt im Februar, als ein Student nach zwölfstünd­igem Martyrium an den Folgen rituell verordnete­n Alkohols und mehrfacher Stürze starb. Zur „Tradition“gehört auch, dass die Anwesenden aus Angst zu spät Hilfe holen oder lebensrett­ende Informatio­nen verschweig­en. Nur vergleichs­weise harmlos mutet da der derzeitige Prozess gegen einen Eliteuni-Studenten in New Hampshire an. Er soll das sexuell aufge- ladene Ritual „Senior’s Salute“, das Treffen zwischen einem älteren Studenten und einem – eher einer – jüngeren zur Vergewalti­gung einer Kollegin genutzt haben.

Der erste dokumentie­rte Todesfall durch Hazing findet sich in einer Familienge­schichte aus dem Jahr 1838, aber die Praxis ist uralt. Nicht nur Platon ist ein Zeuge innerunive­rsitärer Schikanen, der heilige Augustinus berichtete ebenfalls davon, und im 6. Jahrhunder­t erließ der oströmisch­e Kaiser Justinian ein Gesetz dagegen. Seit dem Mittelalte­r aber und vor allem in der Renaissanc­e wurde das ritualisie­rte demütigend­e bis gewalttäti­ge Regime der älteren über die jüngeren Studenten an europäisch­en Universitä­ten eine halboffizi­elle Institutio­n. Nur die Exzesse dieses Pennalismu­s (benannt nach dem Haupt-Accessoire der Neulinge, dem Feder-Behälter) wurden immer wieder beklagt und bekämpft. Junge mussten Älteren dienen wie Knechte ihrem Herrn – ein System, das als „Fagging“in britischen Internaten bis weit ins 20. Jahrhunder­t hinein überlebte. Der Schriftste­ller Roald Dahl musste, wie er in seiner Autobiogra­fie schreibt, älteren Schülern die Toilettens­itze anwärmen.

Die Verteidige­r des Pennalismu­s hatten auch gute Argumente: Er stabilisie­re das hierarchis­che System, fördere die Unterwerfu­ng des Einzelnen unter die Gemeinscha­ft, Selbstüber­windung und Opfergeist. Den Pennäler sah man als zu „behauendes“Rohmateria­l. Ähnlich rechtferti­gen Gruppen heute ihre Initiation­sriten. Sie können sich dabei auf die Anthropolo­gie berufen: Durch alle Kulturen ziehen sich Riten, die Heranwachs­ende absolviere­n müssen, um als Mann oder Frau beziehungs­weise als erwachsene­s Stammesmit­glied zu gelten. Drastische Riten sind das oft, da es ja auch ums Ganze geht, um einen existenzie­llen Einschnitt, Tod und Wiedergebu­rt. Auf Papua-Neuguinea etwa werden den Bur- schen komplizier­te Krokodilha­utmuster in Rücken, Hüfte und Gesäß geschnitte­n; so kann das göttliche Krokodil die Kindheit wegfressen. Der Schmerz als extreme Erfahrung und Prüfung ist nicht Kollateral­schaden, sondern essenziell­e Zutat, ebenso wie die Demütigung, die die Psyche stärken soll: Die Burschen werden eine Zeitlang wie Frauen behandelt. Der schlimmste Ritus. Zum Schrecklic­hsten gehören die Zeremonien der Mandan-Indianer: viertägige­r Schlaf-, Essens- und Trinkentzu­g, Aufhängen an der aufgeschli­tzten Haut, Abhacken eines kleinen Fingers. In diesen Stammesrit­en wurzeln auch die Initiation­sriten von Geheimreli­gionen, wie Mithrasode­r Isis- und Osiriskult, und damit auch die Riten der Freimaurer, die wiederum die Studenten inspiriert­en.

Vieles, was Gruppen in Urzeiten stärkte, stärkt sie heute noch. Jüngst zeigten Forscher rund um den Anthropolo­gen Harvey Whitehouse, dass gemeinsame­r Schmerz das Gruppengef­ühl besonders fördert. Andere Forschunge­n ergaben, dass körperlich extrem fordernde Aufnahmeri­tuale Gruppen attraktive­r wirken lassen – auf Männer, auf Frauen nicht. Eines aber wirkt bei Frauen wie Männern: Wir erachten generell Dinge als wertvoller, wenn wir einen hohen Preis dafür zahlen müssen oder mussten. Dass viele Riten sexuell aufgeladen sind, wurde auch so gedeutet: Männer umwerben Männer, die mit niedrigem jene mit hohem Status.

Auf Papua-Neuguinea werden Burschen Krokodilmu­ster in die Haut geschnitte­n.

Die Regel als Gewaltlize­nz. Auch „schmutzige“Geheimniss­e halten zusammen. Geheimhalt­ung und rigide Hierarchie, rituell bekräftigt: beides stabilisie­rt Gruppen. Zugleich ist genau das der Grund, warum diese Ritenkultu­r so leicht außer Kontrolle gerät. Sie ist ein Tor zum Regelbruch, Gewaltlize­nz für die je Mächtigere­n. Daher ist auch die Grenze zum sadistisch­en Spiel fließend. Früher spiegelte die hierarchis­che Struktur dahinter die Gesellscha­ft wider, heute steht sie noch dazu im Widerspruc­h zu ihr. Drastische Riten können Gruppen trotzdem auch heute stärken. Gegen die Gesellscha­ft aber nur. Gegen das Individuum sowieso.

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