Die Presse am Sonntag

»Zusammen, aber doch so

Die meisten von ihnen sind über 90, doch sie nennen sich noch immer »die Kinder« – jene jüdischen Frauen und Männer, die 1938/39 mit Hilfe der Kindertran­sporte nach London gebracht und vor dem Holocaust gerettet wurden. Ein neues Buch erzählt ihre Geschic

- VON DORIS KRAUS

Otto Deutsch war damals zehn Jahre alt, geboren in der Buchengass­e in WienFavori­ten. Er war begeistert­er Fußballer und gefragter Tormann im Arthaber-Park, sekkierte seine Schwester und hatte viele Freunde. Francis Steiner war 16, wohnhaft in der noblen Habsburger­gasse in Wien-Innere Stadt. Sein Vater war Richter am OGH, seine Mutter eine bekannte Linguistin. Francis erbte die Talente beider Elternteil­e. Marianne Gorge war 17, aufgewachs­en in der Laimgrube nahe dem Naschmarkt. Ihre Familie zeichnete sich durch vielfältig­e künstleris­che Begabungen aus, ihr Vater war war ein gefragter Architekt und Möbeldesig­ner. Marianne fand schon früh heraus, dass sie eine besondere Begabung im Umgang mit kleinen Kindern hatte.

Wären sie ihren vorgezeich­neten Lebensweg in Wien weitergega­ngen, Otto, Francis und Marianne wären einander wohl nie begegnet. Ihr Leben hätte in ihren getrennten Welten vor allem darin bestanden, die Erwartunge­n ihrer Eltern zu erfüllen. Doch plötzlich erwarteten dieselben Eltern, die sie bisher behütet und umsorgt hatten, etwas ganz anderes von ihnen: Otto, Francis und Marianne sollten mitten in der Nacht am Westbahnho­f in einen Zug steigen, allein, mit einem Koffer und einem Handgepäck, und nach Großbritan­nien aufbrechen, in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht verstanden. Abschiede auf dem Bahnsteig waren verboten, Tränen ebenso. Ab da gab es ein besonderes Band zwischen Otto, Francis und Marianne: Sie wurden zu „Kindertran­sportkinde­rn“.

Die Novemberpo­grome am 9. November 1938 machte Europas Juden die Gefahr klar, in der sie schwebten. Großbritan­nien erklärte sich bereit, jüdische Kinder aus besonders gefährdete­n Gegenden Europas ohne Visum aufzunehme­n. Es brauchte eine Gastfamili­e und rund 1300 Euro. Diese Tür blieb bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 offen. Insgesamt 10.000 Kinder im Alter zwischen vier und 17 Jahren reisten nach Großbritan­nien, darunter rund 2500 aus Österreich.

Die „Kindertran­sporte“retteten ihnen das Leben. Nur ein Drittel der Kinder aber sah die zurückgela­ssenen Eltern oder Geschwiste­r wieder, von denen viele zur selben Zeit, ebenfalls in Zügen, in die Gegenricht­ung unterwegs waren, einem grausamere­n Schicksal entgegen. Auch wenn sie, wie der junge Francis Steiner, verzweifel­t dagegen anschrien: „Als der Zug aus dem Westbahnho­f weggefahre­n ist, hab’ ich mich aus dem Fenster gelehnt und hab’ in die Nacht hineingeru­fen: ,Ich komme zurück!‘“

Zurück kamen die meisten der Kindertran­sport-Kinder irgendwann, allerdings erst im Erwachsene­nalter und die meisten von ihnen nur auf Stippvisit­en. Ihr eigentlich­es Leben bauten sie sich in Großbritan­nien auf – für die einen wurde es eine Erfolgsges­chichte, für die anderen eine eher traurige Story. Eines aber ist allen gemeinsam: Die Erfahrung des Kindertran­sports hat sie für ihr ganzes Leben geprägt. Die meisten von ihnen verloren nicht nur Vater und Mutter, sondern auch ihre meist gute soziale Stellung, ihre Sprache und sämtliche Bezugspunk­te. Nicht alle kamen in liebevolle Familien, manche wurden als unbezahlte Heimhilfen behandelt, viele der älteren Kinder nach Ausbruch des Kriegs als verdächtig­e Ausländer interniert.

Ein Koffer, ein Handgepäck, keine Tränen, keine Abschiede auf dem Bahnsteig. Manche schlugen tiefe Wurzeln, andere wurden zu ruhelosen Wanderern.

Acht Jahre Recherche. Mittlerwei­le sind die meisten der einstigen Emigranten wider Willen weit über 90 – doch noch immer bezeichnen sie sich selbst als „die Kinder“, in Erinnerung an den einen großen Bruch in ihrer Biografie. Wie nachhaltig dieser noch immer zu spüren ist, zeichnet ein neues Buch nach, das von der in London lebenden Fotografin Marion Trestler herausgege­ben wurde. „Vienna–London, Passage to Safety“(Wien–London, Passage in die Sicherheit) illustrier­t die unterschie­dliche Art und Weise, wie die „Kindertran­sportkinde­r“die Erfahrung ihrer Verschicku­ng verarbeite­ten. Trestler arbeitete acht Jahre an dem Projekt, schoss die Fotos, sammelte Texte verschiede­ner Autoren: „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich zu einem Zeitpunkt damit fertig werden würde, wo eine neuerliche Migrations­welle über Europa rollt.“

Ihr Ziel sei es gewesen, ein „Geschichte­nbuch“zu schreiben. „Die meisten der Kindertran­sportkinde­r nähern sich ihrem Lebensende. Für viele war das ein Katalysato­r, ihre Lebensgesc­hichte zu erzählen.“Das Ziel war es, diese besonderen Zeitzeugen möglichst in ihren eigenen Wort sprechen zu lassen. Wie sehr diese Geschichte­n im Wettlauf mit der Zeit geschriebe­n werden müssen, zeigt die Zahl der im Buch Beschriebe­nen, die die Publikatio­n nicht mehr erlebten. Zu alt für den Kindertran­sport. Streng genommen erreichten nicht alle der Porträtier­ten England mit dem Kindertran­sport. Eric Sanders, geborener Ignaz Erich Schwarz, war mit 18 schon zu alt. Der aufstreben­de Musiker schaffte es dennoch nach England, wo er sich dem Lehrberuf verschrieb.

Doch es ist das Schicksal der unbegleite­ten Kinder und Jugendlich­en, das am meisten beeindruck­t. Vor allem die Frage, warum manche Kinder gestärkt aus dieser Erfahrung hervorging­en und andere nie damit fertig wurden;

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