Ganz, ganz allein«
warum die einen tiefe Wurzeln schlugen, die anderen zu ruhelosen Wanderern zwischen verschiedenen Welten wurden; warum manche sich mit Haut und Haar der neuen Heimat verschreiben konnten, andere hingegen nie ihren Platz fanden.
Zu Letzteren zählt Ernest Schwarzbard. Ernest war erst sieben Jahre alt, als er Wien mit dem letzten Kindertransport verließ, „ganz allein zusam- men mit 200 Kindern, aber trotzdem so ganz, ganz allein“. Diesen Zustand bevorzugt Schwarzbard bis heute. Er reagierte auf das Trauma der Trennung von seinen Eltern, indem er sich von der Welt zurückzog. Seine Muttersprache vergaß er fast zur Gänze: „Das Deutsch war verschwunden, ganz verschwunden. Mit wenigen Ausnahmen. Zum Beispiel, ich wusste ein einfaches Wort wie Hund oder Katze oder Haus.“ Er musste erst wieder Deutsch lernen. Nach Wien kehrte er zwar zurück, blieb aber „ein Fremder in einer fremden Stadt“. Auch wenn er sich noch an die Figuren der Ankeruhr am Hohen Markt erinnern konnte, die er immer mit seiner Mutter besucht hatte. Leberkässemmerl. Anders verlief die Erfahrung von Otto Deutsch, sowohl in England als auch in der Beziehung zu seiner Heimatstadt. „Wenn ich in Wien bin, ist es, als ob die Jahre nicht einmal passiert waren, also ich kenn’ mich noch genauso gut aus. Ich hab’ auch noch immer gern ein Leberkässemmerl, muss nicht koscher sein.“Otto kam gemeinsam mit seinem Cousin Alfred Kessler nach England, zur Familie Ferguson, die ihn wie ihr eigenes Kind behandelte. Doch bis zuletzt betete er in der Synagoge für seine Eltern und seine Schwester, die er in Wien zurücklassen musste und die er nie wieder sah. Eine eigene Familie gründete er nie.
Nicht so Erich Reich, mittlerweile Sir Erich: verheiratet, fünf Kinder, acht Enkelkinder. Erich war mit vier einer der Jüngsten auf dem Kindertransport. Er kam mit seinem älteren Bruder Ossi, älterer Bruder ein Monat vor ihr. Sie wurde von einer Familie in Surrey aufgenommen. Zu schüchtern, um Zucker für ihren Tee zu verlangen, trank Alice ihren Tee bis zum Ende ihres Lebens ungesüßt. Mit 18 trat sie dem Korps der weiblichen Helfer der britischen Air Force bei. Später engagierte sie sich zunehmend für Frauen und Kinder, vor allem für Alleinerzieherinnen, für misshandelte und vergewaltige Frauen.
Es ist kein Zufall, dass die aktive Nächstenliebe, die in Großbritannien ohnedies großgeschriebene Charity, das Feld wurde, auf dem sich viele ehemalige „Kindertransportkinder“intensiv betätigten. Zum einen waren sie durch ihre eigene Erfahrung besonders sensibel für die Not anderer geworden. Zum anderen konnten sie dem Land gegenüber eine Schuld begleichen, das ihnen das Leben gerettet hatte. Und schließlich wollten viele von ihnen, denjenigen Gutes zu tun, die so verletzlich waren wie sie einst: den Kindern.
Viele »Kindertransportkinder« engagierten sich später in der aktiven Nächstenliebe.