Die EU-Außengrenze in Afrika
In Europa reden alle von Libyen, dabei ist Agadez in Niger das Nadelöhr der Migrationsströme aus Subsahara-Afrika – zumindest war es das. Denn der EU-Einsatz zeigt Wirkung.
Pünktlich um 23 Uhr beginnt das Einsatz-Briefing auf dem mit Wüstensand dick überzogenen Hof der Polizeistation von Agadez. „Die Wagen der Gendarmerie fahren zuerst, dann folgen die Polizeifahrzeuge“, erklärt Ali Issoufou, Polizeichef der Stadt in Zentralniger mit lauter, eindringlicher Stimme. Er ist umringt von schwer bewaffneten Mitgliedern der Anti-Migrationseinheit des westafrikanischen Landes. Sie werfen gespenstische Silhouetten im Schein einer viel zu kleinen Lampe. „Wir bleiben im Konvoi bis zum ersten Kreisverkehr“, lautet die nächste Anweisung. „Dort biegen alle auf ihre vorgeschriebenen Routen ab. Um 1 Uhr treffen wir uns zur erneuten Lagebesprechung an dem Ort, den ich über Funk durchgeben werde. Und nun los!“
Wenige Minuten später fahren acht Geländewagen mit jeweils sechs Männern auf den Ladefläche hinaus ins nächtliche Agadez, auf der Suche nach Migranten und Menschenhändlern.
„Diese nächtlichen Operationen sind streng geheim“, sagt Issoufou. „Nur der Gouverneur und ich wissen, wann und wohin es los geht.“Bis zum Tagesanbruch patrouillieren die Einsatztruppen alle Straßen und Pisten, die aus der Stadt in das rund 800 Kilometer entfernte Madama führen. Dort liegt die Grenze zu Libyen, von der die Migranten dann gewöhnlich weiter an die Mittelmeerküste reisen, um dort in einem der überfüllten Schlauchboote nach Europa überzusetzen.
Auf dieser Strecke waren in den letzten Jahren Hunderttausende von Migranten unterwegs. Agadez war der Ausgangspunkt, an dem man sich traf auf dem Weg ins vermeintliche Paradies. Jeden Montag verließ eine Kolonne von über 200 Geländewagen mit rund 5000 Auswanderern aus ganz Subsahara-Afrika die Stadt, um die Reise durch die Wüste anzutreten. Heute ist es damit allerdings vorbei. Agadez wirkt leer und verwaist. Geschäfte und Tankstellen mussten schließen. Denn nur noch wenige Migranten kommen hierher und wer von ihnen weiter will, muss sich verstecken.
In Europa reden alle von Libyen, dabei ist Agadez das Nadelöhr, durch das alle Menschen aus Afrika auf der Suche nach einem besseren Leben passieren müssen. Und dort, in dieser Stadt mit über 100.000 Einwohnern, wurde die Migration nun zum Erliegen gebracht. Die Zahlen von Neuankömmlingen an Italiens Küsten belegen das. Von August bis November wurden nur mehr 21.332 Personen registriert. Zuvor waren es in einem einzigen Monat über 20.000.
Polizeichef Issoufou hat eine einfache Erklärung. „2015 wurde in Niger illegale Migration unter Strafe gestellt und wir haben nur für die Einhaltung des neuen Gesetzes gesorgt.“Das klingt simpel, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn einen erheblichen Beitrag hat die EU geleistet. Sie lieferte nicht nur wüstentaugliche Fahrzeuge mit GPS-Geräten, sondern machte aus den nigerischen Sicherheitskräften eine einsatzfähige, effiziente Truppe. „Wir haben ihre operationalen Fähigkeiten verbessert“, sagt Kirst Henriksson etwas untertreibend. Sie ist die Missionschefin von EUCAP Sahel Niger, die bereits seit 2012 nigerische Sicherheitsbehörden beraten, trainieren und sie mit modernem Equipment ausstatten. 26,3 Millionen Euro wurden dafür allein von Brüssel von Juli 2016 bis Juli 2017 zur Verfügung gestellt. „Unser Mandat umfasst nicht nur den Kampf gegen illegale Migration, sondern alle kriminelle Aktivi- täten, von organisierten Verbrechen bis zu Terrorismus.“Wobei EUCAP keine exekutiven Funktionen übernehme, wie sie betont. Dazu seien ja die nigerischen Sicherheitskräfte da, „die hervorragende Arbeit leisten.“
Denn es sei überaus schwierig, das riesige Wüstengebiet um Agadez zu kontrollieren. „Da gibt es immer wieder neue Routen, die die Menschenhändler einschlagen.“Aber auch diese neuen Wege seien bald kein Geheimnis mehr, wie Henriksson behauptet, denn irgendwann müssten die Schmuggler an Wasserstellen. Und die seien den Bewohnern bekannt. Trotz der bedeutenden Rolle der nigerischen Sicherheitskräfte, ist es nicht übertrieben von einer neuen Außengrenze der EU in Niger zu sprechen, mit Agadez als Kontrollpunkt mitten in Afrika. „Moralische Pflicht“. Der Polizeichef findet nur gute Worte für die Arbeit von EUCAP. Aber er scheint doch die Kooperation mit dem Joint Investigation Team, kurz ECI, zu favorisieren. Das sind französische und spanische Polizeibeamte, die mit den nigerischen Kollegen Einsätze gegen Menschenhändler planen und durchführen. „Sie sind sehr hilfreich bei der Lokalisierung der Kriminellen“, meint Issouffou mit einem breiten Grinsen. „Vor Monaten waren sie oft hier, aber mittlerweile kommen sie weniger und weniger.“Mehr will er dazu nicht sagen.
Ständig läutet sein Telefon, aber er drückt jedes Gespräch weg. Issouffou ist vor acht Monaten nach Agadez versetzt worden, nachdem es mit der Bekämpfung der Migration nicht so recht geklappt hatte. Seit er hier ist, ging es aufwärts. Er lässt sich eine Liste mit den Fahndungsergebnissen aus dem ersten Halbjahr 2017 bringen. „Insgesamt hatten wir 100 Fälle von Menschenhandel, von denen 50 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden“, sagt er mit dem Blick auf das Blatt. „19 Autos und 16 Motorräder wurden beschlagnahmt und 1406 Menschen sind von den Schmugglern in der Wüste ausgesetzt worden, wovon 20 gestorben sind.“Das sei barbarisch, sagt er zornig. „Ich werde alles dazu tun, dass die Verantwortlichen bestraft werden.“Man glaubt dem Polizeichef, der in den letzten Monaten oft rund um die Uhr im Einsatz war, wie er erzählt. „Es ist unsere moralische Pflicht.“ „Ohne Zwischenfälle“. Die von den Behörden aufgegriffenen Migranten werden an die Internationale Organisation für Migration (IOM) übergeben. Diese im Auftrag der UN arbeitende Hilfsorganisation unterhält in Niger insgesamt fünf Transitcenter. „Viele der Migranten sind völlig fertig, ausgehungert oder krank, wenn sie zu uns kommen“, erklärt Lavinia Prati, verantwortlich für Reintegration bei IOM in der Hauptstadt Niamey. „Wir erfassen ihre Identität, um sie später in ihre Heimatländer zurückzubringen.“Im letzten Jahr wurden von IOM 5000 Migranten nach Hause geflogen. Dieses Jahr waren es 6000. „Unsere Kapazitäten wachsen“, sagt die 29-Jährige. Trotz der Expansion, besonders glücklich scheint Prati darüber nicht zu sein. Denn aufgrund der neuen Polizeimaßnahmen schlagen Menschenschieber immer gefährlichere Wege ein. Als Reaktion auf waghalsigere Schmuggelrouten haben Niger und IOM ein Such- und Rettungsteam eingerichtet. „So können wir den in der Wüste gestrandeten und ausgesetzten Migranten helfen“, sagt Prati.
Um sechs Uhr morgens, kurz vor Sonnenaufgang, kehrt die Patrouille in die Polizeistation zurück. Die Männer wirken erschöpft und müde. „Ohne jede Zwischenfälle“, wird Polizeichef Issoufou gemeldet.
Heute wirkt Agadez verwaist. Die Schlepper suchen aber nach neuen Wegen.